Leseprobe

184 Abb. 2 Bernhard Heiliger, ohne Titel, 1962, Grafit, Kohle auf Papier, 991×695 mm, Privatbesitz wurzeln oder Kompositionen aus Volumina bauen. Eine veränderte Formensprache und Raumerfas- sung werden in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre bestimmend, wie der Blick auf einzelne Zeichnun- gen exemplarisch zeigt. Dabei betont Bernhard Heiliger wiederholt die Selbstständigkeit seiner Zeichnungen gegenüber den Skulpturen, indem er ex negativo argumentiert: »Vorarbeiten in Form von zeichnerischen Entwürfen gibt es bei mir aus die- sem Grunde kaum, sie hindern meine Phantasie.«2 Betrachtet man die erste Zeichnung dieser neuen Reihe (Abb. 2) , so sieht man eine aus vier Formen zusammengefügte Konstruktion, die frei im Raum schwebt. In der Mitte des Blatts platziert, gehen rechts und links auf unterschiedlicher Höhe eines Knotenpunkts Dreiecksformen ab, die so schraf- fiert sind, dass sie an Flügel erinnern. Mit schnel- lem Duktus sind zahlreiche Striche zu einem dich- ten Gewebe verschränkt. Einige Linien sind stär- ker gesetzt, sodass ein stützendes Gerüst wie aus Armierungen entsteht. Nach oben und unten zeigen zwei tubenartige For- men mit kreisförmigen und ovalen Ausbuchtun- gen, die sich wie Krater oder Schrunden lesen las- sen. Diese Tuben scheinen formal noch an eine Zeit zu erinnern, in der sich Bernhard Heiliger mit vegetativen Formen beschäftigte. Auch der Kno- tenpunkt, von dem die vier Elemente ausgehen, hat seinen gedanklichen Ausgangspunkt wohl im pflanzlichen Wachstum. Doch geht von der Zeichnung zugleich eine hoch- explosive Wirkung aus. Wie spitze Pfeile werden Diagonalen mit großer Schnelligkeit kraftvoll ge- setzt. Sie kontrastieren mit den flächigen, eher ma- lerisch angelegten Partien der Tuben. Jedoch wer- den auch diese von Löchern und Kratern überzo- gen, die wie Wunden aufreißen, den Blick in ein tiefes Schwarz ziehen und sich zugleich aggressiv nach außen richten. Erstmals werden mit diesem Blatt die Formen ent- wickelt, die bis zum Ende der 1960er-Jahre für die Zeichnungen Bernhard Heiligers bestimmend sein werden. Der scharfe Kontrast zwischen den runden Formen und den schnellen, spitzen Pfeilen, zwi- schen den wenigen lavierten Flächen und den hart markierten schroffen Kanten, zwischen der explo- sionsartigen Schnelligkeit und dem Schweben im Nirgendwo laden das Blatt mit einer Dynamik auf, die beunruhigt. Ein Jahr später (Abb. 3) zeigt eine Zeichnung ein dreiteiliges schwebendes Gebilde, das in der Mitte eine von Löchern und Kratern durchzogene Fläche aufweist. Rechts und links sind mit nur wenigen Strichen Elemente angesetzt, die aus einem Gerüst bestehen – teils scheinen sie wie Flügel geschwun- gen, teils wie eine futuristisch-technoide Kon­ struktion mit scharfer Linie umrissen. Flächige Partien werden aquarelliert, um die räumliche Ver- bindung der Elemente zu erfassen. Aus den Lö- chern im Mittelteil schießt es wie bei Einschuss- kratern pfeilspitz heraus. Ist es geschleuderte Ma- terie oder Ausdruck von explodierender Energie? Das vegetative, emporstrebende Wachstum und die schwellenden Volumina, die die Bronzen ebenso wie die Zeichnungen bis zu diesem Zeit- punkt kennzeichnen, haben einen positiven, dem Leben zugewandten Grundton. Im Gegensatz dazu wirken diese energetischen, technoiden Komposi- tionen mit ihren harten Formen und Schwarz- Weiß-Kontrasten in ihrer Wucht zerstörerisch. Obgleich die Entladungen kaum gerichtet statt­ finden, erscheinen sie aggressiv. Das Spannungs- feld zwischen rationaler, technischer Konstruk- tion, aus der Natur entlehnten Formen und macht- voller Energie bereitet Unruhe und hat durch die schier unbändige Kraft etwas Dystopisches (vgl. auch Abb. 7 ).

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