Leseprobe
186 Bernhard Heiliger hat sich in Gesprächen stets der Deutung von Stimmungen versagt. Die Zeichnun- gen sind trotz ihrer düster-bedrohlichen Komposi- tionen emotional schwer fassbar. Rückblickend je- doch bemerkte der Künstler: »Ich finde auch, dass surreale Aspekte mehr und mehr in meine Arbeit einfließen.«3 So scheinen die Zeichnungen aus un- terbewussten, gar surrealen Welten herzurühren, lassen jedoch ob ihrer Klarheit und Zielgerichtet- heit keinen Platz für Zufälle oder Träume. Diese explosiven Kraftentladungen wirken mit ihren hart gesetzten Strichen und technischen Formen eher wie nüchtern-rationale Beschreibungen. In einer weiteren Zeichnung, die 1965 entstand (Abb. 4) , ist die Darstellung von Körper und Fläche nahezu gänzlich einer Darstellung von Kon struktion und Energielinien gewichen, die hier je- doch vager und kraftloser wirken. Fiebrig schwin- gen sich Energiefäden auf der rechten Seite des zentralen Verbindungstücks wie dünne Winteräste in einem Bogen aufwärts. Schraffuren bilden auf der linken Seite das kompositorische Gegenge- wicht. Und im unteren Teil entladen einige dieser unheimlichen schwarzen Krater ihren Inhalt, der aber weniger explosiv erscheint. Die Zeichnung führt die Kompositionselemente, die Heiliger in diesen Jahren wieder und wieder verwendet, kon- zentriert zusammen. Eines räumlichen Zusam- menhalts weitgehend enthoben und auf seinen Kern reduziert, wirkt dieses Gebilde wie ein selt- sames vogelartiges Insekt, das der surrealen Welt des Unterbewussten zu entstammen scheint. Das Hochformat ist für die Zeichnungen dieser Jahre bestimmend, womit das Gelagerte, Feste zu- gunsten einer nach oben, in die Höhe strebenden Komposition bevorzugt wird. Die Y-Struktur, die der Komposition etlicher Blätter zugrunde liegt, verstärkt diesen Eindruck noch. Auch in seinen bildhauerischen Arbeiten lässt Bernhard Heiliger seine Skulpturen bis zum Ende der 1960er-Jahre emporwachsen wie beispielsweise in der »Flamme«, die nach oben strebt, sich flügelartig auffächert und gen Himmel züngelt. Wieder und wieder scheint der Künstler in gewagten Konstruktionen bestrebt, die Skulpturen der Erdenschwere zu entreißen. In den Zeichnungen kann sich Bernhard Heiliger nahezu unabhängig von den physikalischen Geset- zen der Gravitation die unendliche Weite des Raums in Schwerelosigkeit erschließen. Durch den im Unterschied zu den Skulpturen vergleichsweise einfachen Entstehungsprozess gewähren die Zeich- nungen dem Künstler gedanklich fundamentale Freiheiten. Die Kompositionen stehen zentral im Nirgendwo der weißen Blätter. Oben und unten sind allein durch die Signatur auszumachen. For- mal gibt es keine eindeutige Richtung. Vielleicht überraschend haftet der Schwerelosigkeit der Kompositionen jedoch nichts Leichtes an. Die Ort- losigkeit der Konstruktionen verstärkt sogar eher noch den Eindruck des Unwirtlichen. Das in den Skulpturen erstrebte Moment der Freiheit scheint hier kaum positiv konnotiert. Die Zeichnungen ermöglichen die direkte Über- setzung eines Gedankens in Verlängerung der Hand auf das Papier. In rascher Folge werden von Bernhard Heiliger Striche gezielt und unmittelbar auf die Blätter gesetzt. Die Bewegungen erschei- nen spontan, eine formale Nähe zum Informel ist erkennbar. Dabei haben die Zeichnungen nichts Suchendes, Fragendes, sondern sind klar und vol- ler Energie. Doch bleiben die Formen in ihrer Schärfe und Monstrosität schwer verständlich. In- folge ihrer Präzision und Kraft wirken sie nicht Abb. 6 Bernhard Heiliger, erste Ent- wurfszeichnung, 1963, Kugelschreiber auf Papier, 210×148 mm, Archiv der Akademie der Künste, Berlin
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