Leseprobe
25 Johann Gottfried Schadows (1764–1850) zeichneri- sches Œuvre ist mit heute 2 300 dokumentierten Handzeichnungen sowie etwa 130 Druckgrafiken umfangreich. Mit satirischem, dokumentarischem, ethnologischem oder empirisch-wissenschaftlichem Blick erfasste der zeichnende Bildhauer dabei seine Umwelt. Doch zeigt sich bei aller Vielzahl und Vielfalt ein deutlicher Grundtenor: die Erfas- sung der menschlichen Gestalt als unabdingbare Basis für die Arbeit als Bildhauer. Als Leiter der Hofbildhauerwerkstatt, als Lehrer und späterer Direktor der Akademie beschäftigte ihn zeitlebens die Suche nach den Grundlagen und möglichen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Proportio- nen. Seine Ergebnisse dokumentierte und vermit- telte er in zahlreichen Messungen und Zeichnun- gen und publizierte sie mit internationalem An- spruch selbstbewusst in deutscher, lateinischer und französischer Sprache. Dem ersten, 1830 pub- lizierten Traktat über die »Lehre von den Knochen und Muskeln von den Verhältnissen des mensch- lichen Körpers und von den Verkürzungen. In drei- ßig Tafeln zum Gebrauch bei der Königlichen Aka- demie der Künste«1 folgte 1834 die erste Auflage des »Polyclet oder von den Maassen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter«,2 an die sich in unmittelbarer Fortsetzung 1835 seine »National- Physionomieen«3 anschlossen. Nachfolgender Bei- trag nimmt jenen zeichnerischen Werkkomplex in den Blick, auf dem seine empirisch-wissenschaft- lichen Arbeiten gründen, um sich den Bildhauer- zeichnungen Schadows aus der Perspektive seiner theoretischen Äußerungen zu nähern. Schadows zeichnerisches Œuvre Angesichts des vor Kriegsverlust wohl etwa 3 0004 Blätter zählenden Bestands an Handzeichnungen wurde oft von einer »Doppelbegabung«5 Schadows gesprochen, die den Zeichnungen implizit einen eigenständigen und vom plastischen Werk un abhängigen Status zuerkennt. Für dieses Urteil spricht maßgeblich die Bandbreite des zeichneri- schen Œuvres, das Karikaturen (Abb. 2) ebenso wie Porträts (Abb. 1) umfasst, Tierzeichnungen (Abb. 3) , Bewegungsstudien (Abb. 4) sowie direkte Entwürfe für umzusetzende Bildhauerarbeiten (Abb. 9) oder Kuriosita wie seine Berliner Witze oder sein Fi gurenalphabet (Abb. 5) . Für die Eigenständigkeit sprechen auch die sehr unterschiedlichen Zeich- nungsmodi und -techniken: Zahlreiche Zeichnun- gen Schadows sind nicht von der Kontur bestimmt, fokussieren nicht den Blick des Bildhauers auf Form und Volumina, sondern lösen sich flächenhaft und nahezu abstrakt in den flirrenden Schraffuren eines intensiven Licht-Schatten-Spiels auf, wie die Federzeichnung einer Löwin zeigt (Abb. 7) . Auch belegen die mit unterschiedlichem Aufwand ver- wendeten Techniken – von schnell hingeworfenen Feder-, Kreide-, Bleistift- oder Rötelstudien bis hin zu aquarellierten Zeichnungen bzw. Blättern mit Weiß- oder Goldhöhungen – eine unterschiedliche Wertung und damit möglicherweise zugleich eine größere Eigenständigkeit als unabhängige künst- lerische Äußerung. Doch lässt sich trotz aller »Dop- pelbegabung« auf dem Großteil der erhaltenen Zeichnungen der Blick des Bildhauers bestimmen: Neben vorbildhaften Bildwerken der Antike sind es gerade schwierige Ponderationen, Verkürzun- gen oder der Blick auf die Muskeln seiner Modelle, die ihn zu interessieren scheinen. Auch in Porträts nimmt Schadow nicht das Erzählerisch-Atmosphä- rische in den Blick, sondern konzentriert sich ganz auf die menschliche Figur und verweist nur in den seltensten Fällen auf eine räumliche Verortung oder eine Memorialfunktion der Darstellung.6 Vor Abb. 2 Johann Gottfried Schadow, Studien blatt mit Karikaturen von französischen Soldaten und einem Wirt mit Tablet, um 1813, Rötel auf Velin, 224×371 mm, Akademie der Künste, Berlin, Kunstsamm lung (Inv.-Nr. KS-Schadow 212), WV 1037 Abb. 1 Johann Gottfried Schadow, Porträt der Friederike Unger, Bruststück im Dreiviertelprofil nach links, wohl 1807, schwarze und braune Kreide, Blei- stift auf Bütten, 379×273 mm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett (Inv.-Nr. SZ Schadow 79)
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