Leseprobe
9 Einführung Der vor 500 Jahren – im März 1522 – von der Augsburger Bildhauerwerkstatt Adolf und Hans Daucher im Chor der Annaberger St. Annenkirche errichtete Hauptaltar war künstlerisch ein Paukenschlag. Einen Hochaltar aus polier- ten farbigen Steinen mit weißen Skulpturen hatten die Menschen hierzulande noch nie gesehen. Darüber hinaus unterschied sich das Steinretabel von den geschnitzten Flügelaltären einheimischer Produktion durch einen neu- artigen, der italienischen Frührenaissance entlehnten Schmuckdekor und verblüffend menschlich gestaltete Hei- ligenfiguren. Der Annaberger Hauptaltar gehört zu den ersten Werken der deutschen Frührenaissance, dem 1522 nördlich der Alpen kaum Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann. Er stieß künstlerisch das Tor zu einer neuen Welt auf. Doch er blieb in der mitteldeutschen Retabel- kunst ohne Resonanz, denn er entstand genau zu der Zeit, als durch Luthers Schriften die Welt der Heilsvorsorge zu- sammenbrach und Glaubensgrundsätze massiv erschüttert wurden. Die Stiftung von Altarretabeln kam schlagartig zum Erliegen. So verhallte der künstlerische Ruf des Stein- retabels zum Aufbruch nach neuen Ufern ungehört. Immer- hin blieb der Altar aber erhalten – wurde nie demontiert oder bildkünstlerisch verändert. Nachdem in Süddeutsch- land fast alle vergleichbaren Bildwerke der Augsburger Bild- hauerkunst im Bildersturm des 16. Jahrhunderts unterge- gangen sind oder dem Erneuerungsdrang späterer Zeiten weichen mussten, steht der Annaberger Hauptaltar in Deutschland nahezu singulär für eine Retabelkunst im Auf- bruch zwischen spätgotischer Tradition und italienischer Renaissance. Die Kunstgeschichte ist sich der Bedeutung des Altars seit Langem bewusst. 1 Trotzdem tut sie sich mit einer aus- führlichen Würdigung des Bildwerkes und einer aktuali- sierten kunsthistorischen Einordnung eigentümlich schwer. In der allgemeinen Literatur zur deutschen Kunst der frü- hen Neuzeit wird der Altar stets genannt – oft aber nur mit knappen Worten beschrieben oder gar als künstlerisch re- tardierendes, unausgewogenes Werk eingeschätzt. 2 Man ist sich heute zwar einig, dass die Skulpturen weitgehend von Hans Daucher, einem der bedeutendsten Bildhauer der Frührenaissance Deutschlands, stammen dürften 3 , scheut sich aber zugleich, sie qualitativ auf eine Ebene mit anderen Werken des Augsburger Meisters zu stellen. Befangen in der auf Süddeutschland fixierten Forschung zur »Spitzen- kunst« der Dürerzeit, erscheint die Würdigung des Altars im weit entfernten Annaberg verhalten und oft nicht aus eigener Betrachtung gespeist. Sicherlich auch infolge feh- lender Fotos der einzelnen Skulpturen des Altars gibt es nur wenig detaillierte Beschreibungen. Der kunstinteressierte Rezipient fand somit nur schwer Zugang zu dem Werk. Das Steinretabel und sein namhafter Bildhauer blieben etwas rätselhaft. Unkritisch übernommene Zahlenangaben und Legenden aus historischen Chroniken nähren zudem eher einen Mythos, als zur Erschließung des Kunstwerkes beizutragen. Im Jahr 2017 erfolgten in Verantwortung des Landes- amtes für Denkmalpflege eine nähere Begutachtung sowie kunsttechnologische und kunsthistorische Untersuchungen des Werkes, die zu völlig neuen, teils überraschenden Er- kenntnissen führten. Mit ihrer Veröffentlichung anlässlich des 500. Jahrestages der Errichtung des Altars soll das Reta- bel aus dem Schatten des Interesses gerückt und als heraus- ragendes Kunstwerk des frühen 16. Jahrhunderts gewürdigt werden. Neben einer kurzen ikonographischen Beschrei- bung und einer genaueren werktechnischen Betrachtung ist es der Versuch einer neuen kunsthistorischen Einordnung des Werkes in die aktuelle Forschung zur Kunst der Dürer zeit. 1 Ausführlichere Behandlungen des Altars in den vergangenen 70 Jah- ren bei: Feuchtmayr 1952, S. 437–441; Baum 1957, S. 155; Müller 1958, S. 141–143; Reindl 1976, S. 115; Kaiser 1978, S. 42 f.; Lieb- mann 1982, S. 375 f.; Ullmann 1984, S. 263 f.; Magirius 1985, S. 43–46; Bushart 1994, S. 219–222; Eser 1996, S. 200–207; Magirius 1997, S. 21; Warnke 1999, S. 27; Magirius 2004, S. 157; Moeller, S. 106; Bürger 2013, S. 353–377; Kiesewetter 2017, S. 380–382; Teget-Welz 2021, S. 108. 2 Steche 1885, S. 33; Liebmann 1982, S. 375. 3 Zuletzt Magirius 1997, S. 21; Eser 1996, S. 46 und 200 f. und Teget- Welz 2021, S. 108.
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