Leseprobe
11 Aufbau und Ikonographie In seiner Gesamtform ähnelt der reichlich sieben Meter hohe Altar mit dem frei stehenden Steinretabel dem traditionellen Typus eines spätgotischen Triptychons mit Predella und be- krönendem Aufsatz (Abb. 4) . Die ausgewogene horizontale und vertikale Dreiteilung wird durch verkröpfte Renais- sanceprofile, antikisierende Pilaster und zwei mächtige Säu- len, deren Kapitelle eigentümlich »unklassisch« übereck gedreht sind, streng gegliedert. Im unteren Viertel des Mit- telteils separiert sich über die gesamte Breite des Retabels ein schmales Register mit zwölf Halbfiguren. Darüber sind in der Retabelmitte zwei große und auf den Seitenteilen drei kleinere Reliefbildszenen übereinander angeordnet. Die na- hezu vollplastischen Skulpturen im Zentrum der steinernen Pala werden von einer halbrunden Bogenarchitektur über- spannt, deren seitliche Zwickel zwei Schmuckstein-Tondi zieren. Auf dem mächtigen Kranzgesims darüber erhebt sich – die Breite der Predella aufnehmend und in halber Höhe nochmals unterteilt – der Retabelaufsatz. Davor stehen in der Verlängerung der Säulenachsen zwei Engelknaben im Harnisch mit Wappenschilden. Auf der von Schmuckstein- Tondi bekrönten Architektur tummeln sich vollplastisch gearbeitete Engel. Ausgelassen reiten sie auf Delphinen, spie- len mit riesigen Füllhörnern und präsentieren schließlich auf der obersten Spitze des Retabels eine reich gefüllte Pflanz- vase. Ein Retabelauszug in dieser Form und Gestaltung war zu dieser Zeit in Sachsen gänzlich neu. Alle tektonischen Elemente des Altaraufbaus bestehen aus verschiedenen rötlich-farbigen Kalksteinen. Davon he- ben sich die Skulpturen, Hochreliefs, Kapitelle und der ge- samte Schmuckdekor aus einem ungewöhnlich weißen, völlig ebenmäßigen Jurakalkstein effektvoll ab. Die weißen Figuren vor der polierten rötlichen Retabelarchitektur ver- leihen dem Altar einen erhaben-festlichen Charakter, der im oberen Bereich durch goldglänzende göttliche Strahlen ge- steigert wird. Nur die Augen, Augenbrauen und Lippen der Figuren erhielten eine kräftige Akzentuierung mit Farbe. Auch dies war 1522 eine ungewohnte Bildwerkpräsentation zwischen den farbig gefassten Schnitzaltären. Durch In- krustationen, teils mit farbigen Kunststeineinlagen, wurden an dem Steinaltar lediglich die Wappen und die architekto- nisch vermittelnden Eckkompartimente zwischen der Pre- della und den Seitenteilen polychrom gestaltet. Das Bildprogramm des Altars führt die Wurzel Jesse als Stammbaum Christi vor Augen. Das altehrwürdige biblische Thema mit den Königen des Alten Bundes wurde mit dem apokryph-legendären Bild der Heiligen Sippe verbunden und gipfelt in der Geburt Christi (Grafik 1) . Die Darstellung der Genealogie beginnt in der Predella mit dem ruhenden biblischen Stammvater Jesse. Entspre- chend der prophetischen Vision Jesajas von der Frucht des Herrn, die aus einem Zweig der Wurzel Jesse aufgehen wer- de (Jesaja 11,1–3), wächst aus dessen Leib der Stammbaum in Form eines Weinstocks empor und verzweigt sich über die gesamte Breite des Retabels. Hin und wieder sind an den Zweigen Weintrauben versteckt. König David, der Sohn Jesses und die nachfolgenden Könige der davidschen Linie sind als Stammesvertreter des Alten Bundes im unteren Re- gister zusammengefasst. Dicht gedrängt gruppieren sich ihre Büsten um den Stammbaum (Abb. 5) . Identifizieren lassen sich nur König David mit der Harfe und vielleicht Salomo rechts neben dem Stamm. Offenbar war der Bildhauer davon ausgegangen, dass die einzelnen Könige auf den beigefügten Spruchbändern benannt werden – was jedoch nie erfolgte. 4 Einander zugewandt sind die Könige teils lauschend, teils gestikulierend im Zwiegespräch vertieft. Alle tragen auffallend modische Kleidung mit kostbarem Schmuck und Accessoires. Meisterhaft hat es der Bildhauer verstanden, unterschiedliche Charaktere und Stimmungen festzuhalten. Neben ruhig ab- wägenden und von Weisheit geprägten Charakteren finden sich auch Hochmut und Trotz – vielleicht als Hinweis, dass nicht alle Könige des Alten Bundes stets dem Gebot Gottes folgten. Abb. 4 Hauptaltar, Gesamtansicht Datierung: vollendet 1521, errichtet und geweiht im März 1522 Maße: Gesamthöhe (Altarmensa und Retabel): 7,38 m maximale Breite des Retabels: 3,63 m maximale Tiefe des Retabels: 0,40 m Material: Kalkstein (Jurakalkstein, Knollenkalk, Kalk brekzie), Inkrustationen teils mit Kunststein, Kupfer, getrieben (Strahlen) Farbfassung: punktuelle Tempera-Fassung (Augen, Augenbrauen, Lippen), partielle Vergoldungen (Gewand- saum Jessefigur, Strahlen) Zustand: Der Altar steht unverändert am originalen Aufstel lungsort. Die partiell tiefergehend patinierten Skulpturen und Reliefs weisen zahlreiche kleinere Abbrüche und mechanische Verletzungen auf. Bei den Putten im Bereich des Aufsatzes gibt es auch größere Materialbrüche sowie unsachgemäße Klebungen und Kittungen mit Gips. Kleinere Verletzungen der Retabel architektur wurden mit Gips und Wachs geschlossen. Bildhaue rische Ergänzungen sind nicht erkennbar. Das sächsische Wappen ist vermutlich im 20. Jahrhundert komplett übermalt und vergoldet worden. Die weitgehend original erhaltene Fassung der Augen und Lippen zeigt geringfügige Retuschen. Restaurierungen: 1630, 1882(?), 1981 4 Siehe Anm. 39.
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