Leseprobe

72 Fragment Braid ( second state ) 1973 Radierung in Braun auf Nideggen-German-Buff-Vergépapier 970×635 mm ( Blatt ) , 838×406 mm ( Platte ) 10 Abgetrennt von seinem körperlichen Ursprungsort bindet der Zopf zudem Erinnerung. Seit dem 17. Jahrhundert war es gebräuchlich, das Haar von Toten aufzubewahren, 2 später auch, es in Schmuck zu verarbeiten. Insbesondere im 19. Jahrhundert wurde diese Praxis auf das Haar von be- sonders geliebten ( lebenden) Menschen ausgeweitet. Hier wie dort steht das Haar als Pars pro Toto für die leibliche Präsenz des eigentlich Abwesenden; es kann berührt werden und erlaubt damit ein Erinnern mit mehreren Sinnen. Ähn- lich funktioniert auch Dines Braid. Der Mensch ist im Zopf implizit, ist darin zugleich an- wie abwesend – eine Span- nung, die beim Betrachten befremdet. 1 „[S]ources of personal iconography“, Wye 2004, S. 160. 2 Vgl. Laqueur 1992, S. 16–17. Jim Dine geboren 1935 in Cincinnati, Ohio Verblüffend echt wirkt der lange Zopf, den Jim Dine etwas ‚überlebensgroß‘ in ein schmales Hochformat radiert hat. Haar um Haar ritzte er dafür mit einer spitzen Radiernadel in die Asphaltlack-Grundierung der Metallplatte, reihte feine Linie an feine Linie – und setzte dann lakonisch das Wort „BRAID“ ( „Zopf “) darunter. Der dicke und etwas unregelmäßig geflochtene Zopf wirkt dabei irritierend körperhaft, obgleich er doch abgeschnitten und damit ganz entschieden von dem Leib getrennt ist, aus dem er einst erwuchs. Es ist der Zopf von Jim Dines Ehefrau, der Filme­ macherin Nancy Dine, die in den 1970er Jahren für den Künstler zu einer neuen „Quelle persönlicher Ikonographie“ 1 wurde. Dem Zopf ist etwas zutiefst Sinnliches eigen, was er mit Dines Radierungen von Pinseln gemein hat, und er teilt mit den Haarmotiven aus Photographs & Etchings / Kat. 9, S. 63–70 den Fetischcharakter des Haars.

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