Leseprobe
124 Text und Sprache Untitled 1968 Farblithografie auf BFK -Rives-Velinpapier 636×832 mm ( Blatt ) , 465×670 mm ( Stein ) 26 Tobey, der sich erst 1961 in der Schweiz der Druckgrafik zu- gewandt hatte, kratzte dafür ein dichtes Allover vor allem weißer kalligrafischer Linien aus dem später ockerfarben ge- druckten Grund der Lithografie. Stenogrammartige Striche werden von geometrischen Formen überlagert, von Kreisen, Dreiecken, Wirbeln, verschiedentlich in Rot, Gelb, Blau oder Schwarz. Es ist ein frenetisches Gewirr von Zeichen und Linien, sinnbildhaft für die moderne menschliche Zivilisation. Auch angesichts des lehmfarbenen Untergrunds erinnert die Komposition an Graffiti, an Schrift, eine Analogie, die wie bei Louise Nevelson / Kat. 27, S. 127 allerdings rein formal ist. Tobeys abstrakte Zeichen enthalten keinen hermetischen Code, sie definieren ein malerisches Gefüge ohne Semantik. 1 Vgl. Rathbone 1984, S. 26–38. 2 Vgl. Dahl 1967, S. 6; Rathbone 1984, S. 18. 3 „I wanted a picture that one felt more than one looked at“, Mark Tobey, zit. nach Rathbone 1984, S. 50; ins Deutsche übersetzt von Jan Röhnert. Vgl. zudem Seitz 1962, S. 31. Mark Tobey Centerville, Wisconsin, 1890– 1976 Basel 1935 schuf Mark Tobey, damals in England lebend, aus der Erinnerung heraus zwei Gemälde, die sein Erlebnis der Stadt New York schildern: 1 Broadway (The Metropolitan Museum of Art, New York) zeigt das hektische Großstadt- treiben, Leuchtreklamen, Autos und Menschenmengen, die, wenn auch noch erkennbar, bereits zeichenhaft abstra hiert sind. Broadway Now (Privatbesitz) übersetzt die von Lichtern umfangenen Menschen in ein verschlungenes, abstraktes Liniengerüst. Beide Werke schöpfen aus Erfah- rungen der Wirklichkeit, sind dann aber, nicht zuletzt von Tobeys intensiven Studien zur chinesischen Kalligrafie beeinflusst, impulshaft ‚niedergeschrieben‘. 2 „Mir schwebte ein Bild vor, das man mehr empfindet als betrachtet“, 3 so Tobey. Dieser künstlerische Ansatz bestimmte sein weiteres Schaffen. Er prägt auch die vorliegende Farblithografie von 1968, die zu Tobeys Gemälde Written over the Plains von 1950 (The Museum of Modern Art, New York) formale Ähn- lichkeiten aufweist.
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