Leseprobe

9 Kelly Baum beschrieb die daraus resultierende Grundstimmung bis wenigs- tens in die 1980er Jahre als „delirious“. 2 Im Taumel, in existenzieller Verunsicherung, so Baum, hätten Künstlerinnen und Künstler Werke geschaffen, die, selbst wenn sie auf Konzept und Kalkül beruhten, Elemente des Irrationalen aufwiesen. In New York – nach dem Zweiten Weltkrieg das wichtigste Kunstzentrum der westlichen Welt –, später auch an der Westküste entstanden dabei in relativ kurzer Zeit viele verschiedene künstlerische Stilkonzepte und ästhetische Positionen: Auf den Abstrak- ten Expressionismus mit seinem spontanen, gestischen Vortrag folgten Ende der 1950er Jahre Pop-Art sowie – wenig später und nahezu gleichzeitig – Minimal Art, Konzeptkunst und Performance-Art. Da die Grenzen zwischen Malerei, Skulptur, Zeichnung, Druckgrafik und Fotografie längst durchlässig geworden waren, wählten Künstlerinnen und Künstler Medium und Material frei und strategisch – je nach der Aussage, die sie treffen wollten. Der Druckgrafik kam dabei ab den 1960er Jahren die vielleicht überraschendste Rolle zu. Als Labor ästhetischer wie inhaltlicher Experimente erschloss sie Künstlerinnen und Künstlern ganz neue formale Wege, die auch auf die im weiteren Sinne klassische Malerei zurückwirkten. Andy Warhol, um nur ein Beispiel zu nennen, schuf letztlich Siebdrucke auf Leinwand. Als „Graphic Boom“ 3 ging diese druckgrafische Renaissance in die Kunstgeschichte ein; sie war gleichzeitig ein künstlerischer Aufbruch. Graphic Boom Da es vor Ende der 1950er Jahre in Amerika kaum druckgrafische Werk- stätten gab, war dies keine selbstverständliche Entwicklung. 4 Eine wichtige Ausnahme bildete das zunächst in Paris gegründete Atelier 17, eine auf Tiefdruck spezialisierte Werkstatt, die der aus der französischen Hauptstadt emigrierte Künstler Stanley William Hayter 1944 in New York wiedereröffnete ∕Abb. 1 . Hayter, der seinen eigenen künstlerischen Ansatz aus der écriture automatique des Surrealismus entwickelt hatte, schuf im Atelier 17 eine konzentrierte Atmosphäre für kreativen Austausch, gemeinschaftliches Arbeiten und spontanes Experimentieren. 5 Louise Bourgeois, Dorothy Dehner, Willem de Kooning, Robert Motherwell, Louise Nevelson oder Jackson Pollock radierten hier Druckgrafiken, manche ihre ersten. Auflagen entstan- den selten, meist nahmen die Künstlerinnen und Künstler nur wenige Probeabzüge. Abb. 1 Stanley William Hayter ( Mitte ) im Atelier 17, New York, um1955 Foto: Martin Harris, Silbergelatineabzug, 192 ×195 mm, Fine Arts Museums of San Francisco, Gift of Robert Flynn Johnson

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