Leseprobe

94 Die Hauptverkehrsader der Stadt, der Canal Grande, ist ein ebenso häufig verewigter Teil von Venedig. Bellotto malte seine Ansichten des Kanals und der angrenzenden Gebäude entweder von einem der Kanalufer aus wie in der Ansicht Blick auf den Canal Grande: Santa Maria della Salute und die Dogana vom Campo Santa Maria Zobenigo oder von einer der Brücken; in letzte- rem Fall füllt das Wasser den größten Teil des Gemäldes aus und wird zu dessen wichtigstem Protagonisten . 10 Der Künstler zeigt in seinen Gemälden Orte, an denen sich staatliche Wür- denträger, Beamte und Reisende treffen, welche die Stadt besuchen, aber auch abseits gele- gene kleinere Plätze und Winkel, in denen ebenfalls interessante öffentliche Gebäude und Kirchen zu bewundern sind, wie bei der Ansicht Rio dei Mendicanti und Scuola di San Marco (Abb. 2), und in denen das tägliche Leben der Einwohner zu beobachten ist.11 Mit der erwähn- ten Ansicht Blick auf den Canal Grande: Santa Maria della Salute und die Dogana vom Campo Santa Maria Zobenigo (Abb. 3) schuf der Künstler, der bisher eher mittelgroße Leinwandfor- mate gewohnt war, nun ein Gemälde von 139 auf 237 Zentimetern. Eine besondere Herausfor- derung muss für den jungen Maler auch Giambattista Colloredos Auftrag für zwei große Gemälde gewesen sein: Der Canal Grande mit dem Palazzo Corner Spinelli und Der Einzug des kaiserlichen Botschafters Giambattista Colloredo in den Dogenpalast .12 Ähnlich wie andere Künstler dokumentierte Bellotto zudem Feste und öffentliche Feier- lichkeiten der Serenissima. In den Jahren 1739 und 1740 malte er zur Erinnerung an den Besuch von Friedrich Christian, einem Sohn Augusts III., dem König von Polen und Kurfürsten von Sachsen, eine Szene aus der Regatta, die zu Ehren des Prinzen veranstaltet worden war (Abb. 4). Er war nach Italien gekommen, um der Hochzeit seiner Schwester Maria Amalia mit Karl III. von Bourbon, dem König von Neapel, Sizilien und Spanien, beizuwohnen.13 In den Jahren, in denen Bellotto in der Werkstatt von Canal arbeitete, gehörte es zu seinen Aufgaben, Kopien der Gemälde seines Onkels anzufertigen. Die Vervielfältigung von bereits gemalten Kompositionen stand im Zusammenhang mit dem wachsenden Interesse an venezianischen Veduten, insbesondere bei Touristen, die in großer Zahl aus nahezu ganz Europa in die Stadt reisten. Eine große Gruppe unter ihnen bildeten kunstbegeisterte Sammler aus England, deren Zahl in der ersten Hälfte der 1730er Jahre deutlich zunahm. Henry Howard, vierter Earl of Carlisle, gab während seines Aufenthalts in Venedig in den Jahren 1738 und 1739 bei Canal eine Reihe von Veduten für das Castle Howard in Yorkshire in Auftrag. Kowalczyk geht davon aus, dass der junge Bellotto bis zu einem Dutzend dieser Werke geschaffen haben könnte.14 Als bedeutendster Sammler venezianischer Kunst ist hingegen Joseph Smith anzusehen – ein englischer Bankier und Kaufmann, der 1744 zum britischen Konsul in Venedig ernannt wurde. Allein von Antonio Canal soll er über 50 Gemälde und fast 150 Zeichnungen erworben haben.15 Die Gemälde aus Bellottos Jugendzeit beweisen, wie viel er von seinem Onkel gelernt hatte: die Wiedergabe »der Schattentiefe und der Lichtdurchbrüche auf der Architektur, der Risse und Farbstufungen an den Wänden, der Präzision architektonischer Entwürfe, des Funkelns und der ständigen Bewegung des Wassers«.16 Wie Kowalczyk feststellte, basierte Bellottos Kunst auf den Kompositionen seines Onkels. Er verlieh Canals Kompositionen aber eine strengere perspektivische Organisation, wodurch der Eindruck größerer Tiefe entstand.17 Zahlreiche Gemälde aus der venezianischen Periode des Künstlers stechen durch das strahlende Weiß der Palastfassaden hervor. Bellottos Werke zeigen im Vergleich zu Canals einen anderen Umgang mit Farbe und ausdrucksvollere Hell-Dunkel-Kontraste.18 Der Künstler verwendete eine Farbpalette, die motivisch bedingt überwiegend aus Ocker-, Blau- sowie Grüntönen bestand, und hüllte die Städte und ihre Bewohner oftmals in einen silbrigen Schein. Sein feines Gespür für Farben zeigt sich in der Art und Weise, wie er das Wasser Abb. 3 BERNARDO BELLOTTO Blick auf den Canal Grande: Santa Maria della Salute und die Dogana vom Campo Santa Maria Zobenigo , um 1743 Öl auf Leinwand, 139,1 × 236,9 cm Los Angeles, Paul J. Getty Museum, 91.PA.73. √

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