Leseprobe

G emälde- beziehungsweise Skulpturenzyklen gehörten schon immer zu den grundlegenden künstlerischen Ausdrucksformen, doch erst Ende des 17. und im 18. Jahrhundert, als der ausgereifte Barock bis dahin unbekannte, an repräsentativen Inhalten reiche Programme in Interieurs von Herrschafts- bauten einführte, zeigten sie ihren vollen Nutzen. Es handelte sich dabei nicht mehr nur um Zyklen von Darstellungen siegreicher Schlachten oder topografischer Ansichten landesherrlicher beziehungsweise fürstlicher Besitzungen, um traditionelle Ahnengalerien, Porträtzyklen berühmter Persönlichkeiten1 oder um endlos wiederholte Allegorien von Jahreszeiten, Kontinenten, Elementen, Sinnen oder Tempera­ menten, sondern auch – und das war eine unbestreitbare Neuheit – um mehrteilige Zyklen von Stadtansichten. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren das künstlerische Vorbild für europäische Höfe nicht mehr nur das Versailles Ludwigs XIV., sondern auch die von Kunst­ begeisterung und Sammelleidenschaft geprägten Höfe in Dresden, Wien und München. Sie waren es, die neue Lösungen zur Gestaltung und Ausstattung von Innenräumen hervor- brachten und einen neuen Ansatz für die Präsentation von Kunstwerken – sowohl in herr- schaftlichen Appartements als auch in eigenständigen Kunstgalerien – entwickelten. Zyklen städtischer und vorstädtischer Veduten waren aufgrund ihrer Bilderanzahl gut geeignet, um die Besitztümer eines Herrschers2 und eine moderne Stadt zu zeigen, welche nicht mehr nur ein verdichtetes Siedlungsgebiet, sondern zugleich Verwaltungsmittelpunkt eines immer größer werdenden urbanen Raums war. Sie stellte einen Ort sozialer Konflikte, vor allem aber auch ein Zentrum dar, das neue politische, soziale, kulturelle und wissenschaftliche Ideen hervorbrachte.3 Diese Ziele verfolgten zweifellos ebenso die von Bellotto gemalten und von August III. in Auftrag gegebenen Ansichten von Dresden, die von Kaiserin Maria Theresia bestellten Ansichten von Wien und die für König Stanislaus August geschaffenen Ansichten von Warschau. Die Hängung von Gemälden in Reihen auf grünem oder dunkelrotem Hintergrund oder deren Einbau in Wandvertäfelungen oder Stuckrahmen war in repräsentativen Innen­ räumen europäischer Residenzen des 18. Jahrhunderts sehr beliebt, besonders in englischen Herrschaftssitzen wie Petworth House, Corsham Court oder Castle Howard (insbesondere »The Canaletto Room«).4 Interessante Beispiele für diese Art der Präsentation liefern auch die aus den Jahren von 1770 bis 1780 stammenden Zeichnungen von Bellottos erbittertem Rivalen Jean Pillement, der darauf eine ideale, streng nach Format und Thema geordnete Galerie seiner Gemälde darstellte (Abb. 1, 2).5 Auf diese Weise wurden auch Bellotto gut bekannte Schlossinterieurs eingerichtet, vor allem die des venezianischen Palazzo des britischen Konsuls Joseph Smith am Canal Grande, wo Smith ein »Venezianisches Zimmer« einrichten ließ, um darin Gemälde venezianischer Thematik zu präsentieren. Für diesen Raum gab er unter anderem bei Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto, einen Zyklus von zwölf gleichformatigen Ansichten des Canal Grande von der Fondamenta della Croce am nordwestlichen Ende des Kanals bis zu seiner Mündung bei der Dogana di Mare in Auftrag; des Weiteren einen kleineren, aber künstlerisch anspruchsvollen Vedutenzyklus, der sich auf den Markusdom bezog, und sechs Gemälde mit Ansichten der näheren Umgebung der Basilika.6 Außerdem schuf Canal für Smith auch einen Zyklus von fünf Ansichten des antiken Rom (alle fünf befinden sich heute im Bestand der Royal Collection in London). Im identischen Hochformat gemalt, waren sie für das »Römische Zimmer« in Smiths venezianischem Palazzo bestimmt, wo sie in die Wandvertäfelung eingebaut7 oder, wie Bettagno glaubt, in Stuckrahmen angebracht waren.8 Detail aus Abb. 3 √

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