Leseprobe

17 La Cour trifft 15 Jahre später noch einmal auf diese laute neue Welt. Er beginnt, durch Europa zu reisen, als die Eisenbahn von einer Kuriosität längst zur Alltagsrealität geworden ist und menschenleere Orte seltener sind. Selbst das kleine Dänemark ist eisen- bahntechnisch besser an den ungeliebten deutschen Nachbarn angeschlossen. 12 Was bleibt dem spröden Dänen anderes übrig, als sich seine Naturwelten und Fluchtorte selbst zu malen, eine Leere und Kargheit zu schildern, die fast irreal wirkt? Läuft doch selbst die Romantik schon längst wie am Fließband, nachzu- lesen in Guy de Maupassants Roman Bel-Ami (1885), wo es das Protagonisten-Pärchen in einer stickigen Pariser Sommernacht nach draußen in den Wald treibt: »Ein Heer von Droschken führte ein ganzes Volk von verliebten Pärchen spazieren. Ein Wagen folgte dicht auf den anderen. […] Man hörte nur das dumpfe Rollen der Räder.« 13 La Cour, der Außenseiter: Das flüstern seine Gemälde uns zu. Schon Mitte des 19.Jahrhun- derts, auf seiner ersten Eisenbahnreise nach Paris, bekommt er den Blues, fühlt sich von Men- schenwelt und Technik eingekreist – obwohl man damals noch an vielen Stellen endlos zu Fuß marschieren kann, ohne jemandem zu begeg- nen. Aber unter dem Gefühlseindruck schwin- dender Naturkräfte sucht er Orte auf, immer wieder, die »groß, hart, ernst und kalt« sind, wie er es in einem Brief an seine Mutter formuliert. 14 Heute findet man solche Orte, falls man nicht endlose Mühen auf sich nimmt, so gut wie gar nicht mehr, schon gleich nicht in Europa. 15 Während La Cour die Alpen erkundet, zeichnet und malt, von 1868 an, gibt es etwa in Montreux am Genfersee, unterhalb seiner geliebten Monte-Ro- sa-Westseite, bald schon mehr als 50 große Hotels, wie er 1902 in einem Brief klagt. Heute fährt dort, von Zermatt ausgehend, eine Seilbahn diejenigen zu Matterhorn und Monte Rosa hinauf, die sich so ein Geschaukel überhaupt noch antun wollen. Schließlich kann man per Google Street View vom Wirtshaus am Schwarzsee direkt zur von La Cour gemalten Monte-Rosa-Westseite hinaufschauen. Und steht man heute an der italienischen Küste bei Sorrent, dann kann das Meer immer noch diese gespannte Regungslosigkeit haben wie auf La Cours Gemälden von 1866 – theoretisch zumindest. Praktisch wird es, selbst in tourismusgedämpften Covid-Zeiten und bereits am frühen Morgen, von Motorbooten zerpflügt, von Fähren nach Neapel und Capri. Sicher, immer noch kann man sich an dem markant ins Wasser ragenden Felsen erfreuen, den La Cour damals gesehen und gemalt hat. Doch alles Wilde, Öde, Einsame, Leere, Harte, Ernste: Es ist verschwunden. Ungefähr an dem Punkt, an dem La Cour im Sommer 1866 malend gesessen haben dürfte, donnert die Straße. Parken darf man nicht. Die Landschaft ist versperrt, mit Hotels zugebaut – wie überall auf der sorrentinischen Halbinsel. Regungslose Erhabenheit lebt nur in Bildern fort, und womöglich ist es La Cours unbewusster Wunsch gewesen, dass man mithilfe seiner Bilder nicht ganz verlernt, sie überhaupt wahr- zunehmen. Der Verkehr hat die Welt nicht nur er-, sondern auch verschlossen, das erkennt der Schriftsteller Rudolf Borchardt bereits 1907 und schreibt ironisch: »Das Italien unserer Ahnen ist, wie man weiß, seit die Eisenbahnen es für den Verkehr verschlossenen haben, eines der unbekanntesten Länder Europas geworden.« 16 Borchardt meint damit, dass sich alles auf die Orte mit Bahnhöfen konzentriert, wohingegen die Landstriche ohne Anschluss immer mehr verwil- dern. Ein Bewunderer La Cours, der dänische Dichter Sophus Michaëlis, spottet um 1900 in einer Novelle am Beispiel eines Wasserfalls über den neuen Tourismus: »Wo immer ein Fluß eine Volte schlägt und den dazu gehörigen Spektakel vollführt, hat die Welt eine Sehenswürdigkeit mehr. Leute strömen herbei, um einen Humpen Bier zu dem Naturschau- spiel zu trinken. Es wird mitten im Akt serviert. Die Flaschenpropfen knallen über dem Wasserfall und werden in die Tiefe gewirbelt […]. Hotels werden für die Wasserfalltouristen gebaut, wie Reusen für Fische. Die Andenkenindustrie blüht im einheimi- schen Holz, und die geschnitzten Erinnerungen werden über die Welt verbreitet, wobei der berühmte Wasserfall auf Schachteldeckel phototypiert oder in mächtigen Zigarrenspitzen ausgeschnitten erscheint.« 17

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