Leseprobe
52 Versailles besucht. Den Erbauer, Sonnenkönig Louis XIV., hasst er wie die Pest. Doch möchte er gerne die schönen Malereien von Vernet anschauen. Wobei, der Garten gefällt ihm noch besser: »Es war so leer, aber so herrlich einsam in dem großen Garten […]. Schau- erneigung. Ich geriet in einen ordentlichen Regen- guss und stand im Schutz eines Baumes. Das war so echt heimatlich, ähnelte so vielen Situationen aus früheren Sommern, dass es mich beinahe freute.« 27 In diesen Tagen schreiben die Gebrüder Goncourt, im ländlichen Barbizon weilend, in ihr Tagebuch: »Im Süden, viel Vitalität in den Dingen; im Norden, im Menschen.« 28 Stimmt das? Jedenfalls sehnt sich La Cour deutlich nach der Natur. Sehr bald verlässt er Paris gen Süden. Die Stadt hat aus dem Naturbur- schen keinen Bohemien gemacht, falls überhaupt, hat sie ihn in seiner Haltung gefestigt. Er ist das Gegenteil des idealen Malers des modernen Lebens, den der Schriftsteller Charles Baudelaire 1863 in Constantin Guys ausgemacht hat. Baudelaire nennt dessen Werke »Archive des zivilisierten Lebens«. 29 Guy, der viel reisende Kosmopolit, ein Liebhaber der Großstadt, soll laut Baudelaire sogar gesagt haben, dass jeder Mensch, der sich »im Schoße der Menge langweilt«, ein verachtenswerter »Dummkopf« sei. 30 La Cour aber ist kein Dummkopf, und er kann sich auch nur unmodern gebärden, weil er mitten im Beginn der Moderne steht. Zudem ist das Gute nicht immer das Neue, und nicht jede Neuigkeit reißt einen mit. Lustigerweise geht es Baudelaire genauso. Er jazzt einen Maler wie Guys, den man heute kaum noch kennt, zum Moderne-Helden hoch. Warum um alles in der Welt hat Baudelaires seinen Essay nicht über Manet geschrieben, fragt sich mancher Kunstinteressierte. Dann hätten wir ihm jetzt immer noch uneingeschränkt geglaubt. Zu vorschnell sollte man Baudelaire jedoch nicht kritisieren, denn er hat, und das darf man auch auf seine Position beziehen, kein naives Verständnis von Kunst: »Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwin dende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.« 31 Jetzt wird es spannend: Man könnte sagen, La Cour habe sich für die »andere Hälfte« entschieden, für das Ewige und Unabänderliche: Steine, Berge, Küsten, Wälder. Wie sich herausstellen wird, ist die Natur jedoch viel weniger ewig, als man lange ange- nommen hat. Die Veränderung der gesamten Welt hat schon längst begonnen, und im Rückblick scheint die Natur genauso zum Vorübergehenden, Entschwin- denden zu gehören wie das Pariser Stadtleben des 19.Jahrhunderts, wie die kohlebetriebene Dampflok oder der Zylinderhut. Die Natur ist jetzt so ephemer wie Modernität – und der Ruf nach Modernität wie- derholt sich so oft, dass er einen Ewigkeitscharakter bekommt. »Schauer neigung, als ich von Paris wegfuhr, und in der Nacht regnete es. Eine dunkle Stimmung herrschte, in der einsamen Nacht überall an unbekannten Stationen zu halten.« 32 Beim Aufenthalt in Périgneux schnuppert La Cour erstmals die Luft des Südens. Bei der Weiterreise »durch Berggegenden, an Abgründen entlang, durch Tunnel und öde, mit Feuerstein bedeckte Gebiete« kommt er Sonne und Wärme immer näher: »Mein Schatten war zur Mittagszeit kaum eine halbe Elle lang.« Zwischenstopp Toulouse, ein teures Hotel und schlechte Laune. Doch am nächsten Morgen geht es weiter nach Süden: »Bald konnte ich die schnee- bedeckten Gipfel der Pyrenäen sehen und da sang und klang es in mir.« 33 Dann erreicht er das vorläufige Ziel Montréjeau, eine Gemeinde an der Garonne, am Fuße der Pyrenäen auf ungefähr 500 Metern Höhe. So hoch hat La Cour noch nie in seinem Leben geschlafen und geatmet, die höchste Erhebung Dänemarks misst nicht einmal 200 Meter. Endlich beginnt er zu zeichnen und zu malen. In den Pyrenäen hat La Cour erste echte Berg erfahrungen. »Wenn ich am Morgen (um 5 Uhr) zum Malen hinausgehe, laufe ich Richtung Norden, und da gleicht die Gegend vollkommen einer dänischen Landschaft mit Kornfeldern und Wäldern, mit Eichen und Erlen und kleinen Wie- senflächen zwischen den Höhen, aber wende ich
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