Leseprobe

27 Nachdem die Familie wegen ihrer ungarischen Staatsbürgerschaft aus Deutschland ausgewiesen und nach Moskau emigriert war, studierte Käthe und arbeitete als Sprecherin bei Radio Moskau. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion meldete sie sich freiwillig bei der Roten Armee, um als »deutsche Frau« hinter den Linien gegen die Deutschen zu kämpfen. Dabei wurde sie geschnappt, festgenommen, gefoltert und schließlich im Konzentrationslager Ravensbrück erschossen. In der DDR gab es nur ein Bild von ihr. Aber das war sie nicht. Sie war eine junge Komsomolzin, getrieben von einem starken Veränderungswillen und dem Glauben an eine bessere Welt. Sie hatte wilde, lockige Haare, die sie zusammenbinden musste. Für mich war sie die Jungfrau von Orleans, und so habe ich ihren Kopf auch modelliert. Aber bei der Abnahme sagte man mir: »Das ist nicht unsere Käthe.« Auch die Gedenkstätte Ravensbrück lehnte sie ab. Zu meiner ersten Ausstellung kurze Zeit später stellte ich sie in einer Galerie aus. Fritz Jacobi, damals Kustos in der Nationalgale- rie, kam dorthin. Er hat das Porträt sofort verstanden. Auf diese Weise kam der Kopf von Käthe zwar nicht wie geplant an einen öffentlichen Ort, aber in die Sammlung der Nationalgalerie – ein Adelsschlag. Dass ich nun ausgerechnet mit der abgelehnten Widerstandskämpferin dort vertreten bin, ist schon eine lustige Wendung der Geschichte. Die Arbeit am Porträt Niederkirchner fiel mit der Ausreise Ihres damaligen Mannes zusammen. Hatte die Ablehnung etwas damit zu tun? Ich glaube nicht. Aber es war eine schwere Zeit. Mein erster Mann, Hartmut Lobeck, war Pathologe, hatte in Leipzig studiert und 1968 an den Demonstrationen gegen den Abriss der Unikirche teil- genommen. Er war eben renitent und wurde am Weiterkommen gehindert. Bis er das verstanden hatte und die DDR verließ, dauerte es aber eine Weile. Den Anruf, dass er im Westen geblieben sei, erhielt ich genau an meinem 30. Geburtstag. Ich habe daraufhin einen Ausreiseantrag auf Familien- zusammenführung gestellt. Die Aussicht auf Ausreise hat mir große Freiheiten gegeben. Ich musste mich nicht anpassen wie andere, die hier noch etwas werden wollten. Ich konnte widersprechen und habe das getan. Ich hatte ja nichts zu verlieren. Damals hatten viele Künstler einen Ausreise- antrag gestellt. Hans Schreib und Reinhard Stangl zum Beispiel; ich war nicht die einzige. Aber es kam ganz anders. Als ich den Anruf erhielt, dass für die Kinder und mich die Ausreisepapiere bereit lägen, bekam ich große Zweifel. Ich hatte mich nicht nur in meinen heutigen Ehemann verliebt, sondern das Leben im Westen erschien mir nach allem, was ich so hörte, für eine Künstlerin auch nicht wirklich erstre- benswert. Der Kunstmarkt, die Glätte, die Notwendigkeit, sich als Künstler anzudienen und ver- kaufen zu müssen, schreckten mich. Mein Reichtum in der DDR war die »lange Weile«. Wir hatten unglaublich viel Zeit, uns um alles Gedanken zu machen. Viele hielten diese Ruhe nicht aus und sind deshalb in den Westen gegangen. Mir war die Zeit wichtig. Wenn man keine Ansprüche hat, konnte man mit Brot, Butter und Käse leben. Das hat mir gereicht. Um das Leben musste ich mir keine Sorgen machen. Die Stasi hat es einem zwar versauert, aber nicht mal das habe ich wirklich begrif- fen. Nach der Flucht Hartmuts zum Beispiel waren plötzlich all meine Gipse verschwunden, die auf dem Dachboden lagerten. Da kam ein Kulturkommissar von der Kriminalpolizei, der wissen wollte, wer das getan haben könnte. Nach einem halben Jahr sollte ich ein Papier unterschreiben, das 1 Der Bildhauer Hans Kies (1910–1984) gehörte zu einem Künstlerkollektiv, das zwischen 1955 und 1958 die Denkmale im ehemaligen Konzentrationslager Buchen- wald schuf. Ab 1969 war er Dozent an der Kunsthoch- schule in Berlin-Weißensee. 2 »Leben des Benvenuto Cel- lini« ist Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Übertragung der Auto­ biografie des italienischen Renaissance-Künstlers ins Deutsche. Sie erschien 1803. Cellini lebte von 1500 bis 1571 in Florenz. 3 Nach einem Studium in Leipzig und Berlin war der Bildhauer Friedrich Bernhard Henkel (*1936) 1958/59 im Atelier von Waldemar Grzimek (1918–1984) und 1960 bis 1965 als Architekt im Filmstudio der DDR in Potsdam-Babelsberg tätig. Nach einem Meisterschüler­ studium bei Fritz Cremer (1906–1993) lehrte er ab 1969 mit Unterbrechungen bis 1980 an der Kunsthoch- schule in Berlin-Weißensee. 4 Marika Voss (*1943) ist eine Malerin und Grafikerin, die seit 1973 freiberuflich in Berlin lebt und arbeitet.

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