Leseprobe
106 Ich wurde gefragte, welches mein erstes Porträt war. Ich überlegte – und überlege heute noch –, sagte aber: Bertolt Brecht. Ich besuchte die Bertolt-Brecht-Oberschule in Schwarzenberg. Vergeblich suchte ich nach einem Brecht-Porträt. Weil ich keines fand, habe ich mir eines selbst modelliert. Begriffen habe ich beim Porträtieren, dass Frisuren störend sind und eine Baskenmütze einen klaren Abschluss setzt. Ich schnitt mir auch meine langen Haare ab und trug Baskenmütze. Was ich dabei nicht bedachte, war, dass das Haar sehr langsam wächst. So wurde ich zum hässlichsten Mädchen der Schule. Immer noch in Gedanken über mein erstes Porträt, fiel mir ein, dass wir ein sehr schönes Kinderspiel hatten. Man schnippelte eine große Kartoffel zu einem Gesicht und wartete Tag für Tag auf die Veränderung. Irgendwann kam die Zeit, dass die schrumpelnde Kartoffel Ähnlichkeiten entwickelte. Da begann die Freude. Man sagte sich: Meine ähnelt heute ... Das war jeden Tag große Aufregung. Amüsant wurde es, wenn Ähnlichkeiten mit Familienangehörigen erkannt wurden. Mein wirklich erstes Porträt war 1974 mein kleiner Bruder Paul. Ich hatte Ton, Modellierbock und alles von Berlin mit nach Schwarzenberg geschleppt, machte mehr schlecht als recht den Unterbau und modellierte. Mein Vater kam, sah mich kneten und meinte: Alles Kokolores, Du musst schon beim Unterbau mit Pauls Porträt beginnen! Du musst jederzeit aufhören können und sagen: Das ist Paul. Dieses Prinzip halte ich bis heute. Bei meinem »Porträt Paul« verlief es dann wirklich so, dass ich einen Unterbau baute, der mich so faszinierte, dass ich eine Kaltnadelradierung davon machte. Dieses Porträt hat mich über Jahre verfolgt. Es wollte nicht zur Ruhe kommen. Es steht unter der Nummer NSK 818 im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg, vielleicht im Depot. Dazu gibt es eine lustige DDR-Geschichte: Wir, die Künstler des Verbands Bildender Künstler in der DDR, hatten das Recht, zwei »Ateliergehilfen« anzustellen, jungen Leuten die Möglichkeit zu geben, sich erst einmal im Lande, in der Welt konnte man schlecht sagen, umzusehen. So konnten sie nicht als »arbeitsscheues Individuum« oder als »asoziales Wesen« weggefangen werden. In der DDR gab es die Arbeitspflicht. Ich hatte immer Ateliergehilfen, die nicht bei mir, sondern irgendwo »arbei- teten«. Ein Bildhauer hat ständig ab-, um- und auszuformen. Einmal bewarben sich zwei junge Männer. Wie die Raubritter standen sie in meinem bescheidenen Atelier. Es war beängstigend. Nehmt doch wenigstens die Helme ab, dachte ich. Instinktiv hatten sie es gehört. Unter dem Helm kamen lange blonde Locken zum Vorschein. Die Angst verschwand. Ich arbeite heute noch mit ihnen. Ich hatte gerade diesen kleinen Kopf »wenn ich groß bin, dann ...« in Gips umgeformt und Mein erstes Porträt ANNA F RAN Z I S KA S CHWAR Z BACH
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