Leseprobe

40 Die Fotobücher der 1970er Jahre 132 Der Begriff des establishing shot (auch Einstiegstotale) bezeichnet in der Filmanalyse eine totale oder halbtotale Einstellung, die idealiter zu Beginn einer Sequenz Überblick über den Handlungsraum gewährt; vgl. Fischer 2003: 36. Die konsequenteste Anwendung dieses Stilmittels in White Churches findet sich auf den Seiten 65–68, wo Robert Adams vier Ansichten der St. John’s Catholic Church, Stoneham sequenziert: einen Blick aus der Ferne auf den Ort Stoneham, eine leicht schräge Frontalansicht, ein Detail und eine Seitenansicht. 133 Shipman äußert in diesem Zusammenhang: »Adams’ composition is traditional in this mode, with many precise straight on portraits of buildings and well balanced close up studies with diagonals« (Shipman 1976: 19). Gleichwohl attestiert die Autorin den Fotografien im Vergleich mit Early Hispanic Colorado eine »discrete-structure-orientation« (ebd.). 134 Sachsse 2006: 59. Zu den Konventionen der Architekturfotografie vgl. auch Sachsse 1984. 135 Adams nutzt für seine beiden ersten Buchprojekte wiederholt Farbfilter. Außerdem verwendet er dort verschiedentlich ein Teleobjektiv, wodurch einzelne Bilder eine deutlich geringere Tiefenwirkung aufweisen als die übrigen, die in der Regel – wie auch in seinen späteren Büchern – mit leichtem Weitwinkel aufgenommen sind. Diese technische Unausgewogenheit findet ihre Entsprechung in einer bisweilen etwas unentschiedenen Ausschnittwahl und Perspektive. Die Kirchenbauten erscheinen teilweise allzu eng in den Rahmen gezwängt, sodass weder ein entschiedener Anschnitt noch eine Orientierung über die Dimensionen und die Umgebung des Gebäudes ermöglicht werden. Seine spätere Reflexion fotografischer Konventionen, etwa durch ungewöhnliche Anschnitte des Motivs, befindet sich hier noch im Anfangsstadium. dienen – filmologisch gesprochen – als eine Art establishing shot, indem sie die Lage der Kirchen und deren Verhältnis zur umgebenden Landschaft veranschaulichen.132 Zugleich nutzt der Fotograf sie, um ein harmonisches, wenn auch karges Bild der Landschaft zu zeichnen. Robert Adams widmet sich in White Churches also vor allem den repräsentativen Ansichten der Kirchenbauten sowie signifikanten Details, die er in der Regel frontal und mittig ins Bild setzt.133 Dabei folgt er einer »modernistischen Konvention« der Architekturfotografie, die Rolf Sachsse wie folgt zusammenfasst: »By the late 1920s, conventions about how to depict modern architecture had spread throughout Europe. These conventions included depicting the building through an axial or diagonal (45°) orientation on the selected façade generally in bright early morning or late afternoon sunlight with long and strong shadows that emphasized cubic volumes, or setting the building against a sky dark with cumulus clouds, and presenting the image in a crisp clear print with an overall depth of field and a glossy surface. Another convention was that except for the inclusion of one or two individuals in order to convey the scale of the structure, the pictures were empty of life [...] This modernist convention was propagated in illustrated papers, magazines, books, and most of all, on picture postcards [...] Modernism became the global style in architecture, immensely aided by the exhibition,The International Style, at the newly founded Museum of Modern Art in New York in 1932.«134 Robert Adams variiert das von Sachsse beschriebene Schema nur vereinzelt, etwa durch Nahaufnahme, Anschnitt oder das Kippen der Kamera aus der Horizontalachse.135 Ein weiterer signifikanter Bruch mit der »modernistischen Konvention« der Architekturfotografie besteht im Umgang des Fotografen mit Bäumen, Zäunen und ähnlichen Bildelementen, die wiederholt, etwa durch belaubte Äste oder Schattenwürfe, den Blick auf den jeweiligen Baukörper beeinträchtigen. Auf welchemWeg aber eignet sich Robert Adams die modernistische Tradition der Architekturfotografie an? Wo liegen seine konkreten Vorbilder, und was bedeutet die Adaption dieses Motivkanons und der damit verbundenen Bildsprache für sein Bild des American West? Die Fotografien der White Churches sind offenkundig von der US-amerikanischen Fotografie der 1930/1940er Jahre beeinflusst, und zwar sowohl hinsichtlich der Motivwahl als auch hinsichtlich der fotografischen Umsetzung. Vor allem die Fotografinnen und Fotografen um Dorothea Lange und Walker Evans, die im Auftrag der Farm Security Administration (FSA) unter der Leitung von Roy Stryker das ländliche Amerika der Zwischenkriegszeit dokumentierten, haben zahlreiche Aufnahmen von den schlichten Holzkirchen gemacht.136 Ein besonders prominentes und zur Zeit von Adams’

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