10 Was nun ist Kolonialismus eigentlich? Nach historisch-politischen Definitionen, wie sie etwa Jürgen Osterhammel und Jan Jansen geben, ist »Kolonialismus eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden« (2017: 20). Kolonialismus, so Bernd-Stefan Grewe (2018: 20), lässt sich aber ebenso als »kulturelles Phänomen und als eine mentale Struktur« beschreiben, welche er als nicht abgeschlossen sieht. So verstanden, äußert sich Kolonialismus zum Beispiel auch heute noch als weißes, westliches Überlegenheitsgefühl gegenüber allem, was vom Eigenen, als dem normativ Gesetzten, abweicht. Nach diesem Verständnis ist der Kolonialismus auch heute nicht beendet und hat maßgeblichen Einfluss auf das Verhältnis zwischen dem Globalen Süden, zu dem ehemals kolonial unterdrückte Staaten und Gesellschaften gehören, und dem Globalen Norden, zu dem die ehemaligen Kolonialmächte gehören. Das Begriffspaar Globaler Süden – Globaler Norden ist der Versuch, eine wertfreie, nicht- hierarchische und damit auch dekoloniale Bezeichnung für die Länder zu finden, die bis zum Ende des Kalten Krieges als »Dritte Welt« und seither als »Entwicklungs- oder Schwellenländer« bezeichnet wurden. Da die Mehrheit dieser Länder nach den geltenden geografischen Kategorien südlich der sogenannten Industrienationen liegt, wo sich jedoch auch Australien oder Neuseeland befinden, verweist die Großschreibung von »Global« auf die postkoloniale Bedeutung des Begriffspaars hin (s. a. Holzhäuser-Ruprecht u. a. in diesem Band). Der europäische Kolonialismus der Neuzeit, wie ihn Osterhammel und Jansen fassen, setzt im frühen 15. Jahrhundert (1402/03) mit der sukzessiven Unterwerfung der Kanarischen Inseln unter die Herrschaft des kastilischen Königshauses ein. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die Entwicklung leichtgängiger Schiffe, der Karavellen, die gute Eigenschaften vor dem Wind aufwiesen (Kat. 1). Dieser Schiffstyp und der Zwischenstopp auf den inzwischen kolonialisierten Kanarischen Inseln ermöglichten Ende des 15. Jahrhunderts erstmals die sichere Überquerung des Atlantiks in beide Richtungen und im Anschluss daran die koloniale Besitzergreifung beider Amerikas. Diese erfolgte zunächst durch Spanien und Portugal, bald beteiligten sich auch die Niederlande, Großbritannien und Frankreich an der kolonialen Eroberung des Doppelkontinents. Deutsche waren an der kolonialen Aneignung der Amerikas und der Ausbeutung seiner Bewohner_innen ebenfalls aktiv beteiligt, wie etwa Hans Staden (1525–1576) oder Ulrich Schmidl (1510–1580/81) und in größerem Stil die Welser, ein Augsburger Handelshaus, das Karl V. Geld für seinen Kampf um die Kaiserkrone geliehen hatte. Zum Ausgleich für die Schulden erhielten die Welser 1528 das heutige Venezuela als Lehen und beuteten das Land und seine Menschen 30 Jahre lang aus. Sowohl Schuldknechtschaft als auch Versklavung waren die Methoden, welche Agenten des Handelshauses, wie Ambrosius Ehinger (vor 1500–1533) und Nikolaus Federmann (1506–1542), anwandten, um die indigene Bevölkerung zur Arbeit zu zwingen (Arráiz Lucca 2013: 20 ff.). Zudem brachten sie etwa 4 000 versklavte Afrikaner_innen nach Venezuela. Die koloniale Unterwerfung außereuropäischer Gebiete im Namen von Herrschern, Handelskompanien oder auch auf Initiative Einzelner beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Amerikas, sondern erstreckte sich – beginnend mit Goa auf dem indischen Subkontinent im Jahr 1505 – nach und nach fast über den gesamten Globus. Auch daran hatten Deutsche teil, wie zum Beispiel Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der »Große Kurfürst« (1620–1688). Um sich am Handel mit den Kolonien zu beteiligen, gründete er 1682 die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie (BAC) und ließ Niederlassungen in der Karibik und an der westafrikanischen Goldküste, wie Großfriedrichsburg im heutigen Ghana, errichten (von der Heyden 2002). Mit diesen Niederlassungen als Basis importierte er begehrte Luxusgüter direkt aus den Kolonien für den Verkauf an Adelshöfe und beteiligte sich an einem merkantilistischen Welthandel, der auch als atlantischer Dreieckshandel bezeichnet wird (Reinhard 1985). Mittlerweile ist dieser Begriff, der die Grundzüge der Aktivitäten europäischer Handelskompanien plastisch umreißt, umstritten, weil er die Komplexität des Geschehens auf die Bewegung eines Dreiecks zwischen Europa, Afrika und Amerika reduziert. Im Zentrum des Verkehrs stand die Verschleppung afrikanischer Menschen in die von Europäer_innen eroberten Kolonialgebiete durch Handelskompanien. Deren Schiffe brachten Feuerwaffen, Alkohol, Metallbarren, Tuche, Glasperlen und andere Manufakturwaren an die westafrikanischen Küsten. Dort tauschten sie diese gegen versklavte Menschen, die anschließend nach Süd- und Nordamerika oder in die Karibik verschleppt und auf Sklavenmärkten für die Arbeit auf den Plantagen oder in den Haushalten ihrer Besitzer und Verwalter verkauft wurden. Aus den Kolonien kehrten die Schiffe mit Genussmitteln wie Zucker, Kakao und Kaffee nach Europa zurück.1 Neben einer aktiven Beteiligung waren viele Deutsche, auch aus der Schwarzwaldregion, passiv am europäischen Kolonialismus beteiligt, indem sie ökonomisch von ihm profitierten. So wurden etwa Schiffe für den Transport zwischen Europa und den Kolonialgebieten aus Holz gebaut, das aus dem Schwarzwald kam (Kat. 6 & 7). Die Stämme, zumeist von besonders hoch gewachsenen Tannen, wurden zu sogenannten Holländerflößen zusammengebunden und über
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