Leseprobe

11 Bäche und Flüsse an den Rhein und auf diesem dann in die Niederlande geflößt (Scheifele 1988; 1995). Während keiner der kleinen deutschen Staaten politisch und wirtschaftlich in der Lage war, sich auf Dauer erfolgreich am europäischen Kolonialismus zu beteiligen, veränderte die Reichsgründung 1871 diese Bedingungen grundlegend. Nun gab es einen Nationalstaat, der in politischer, militärischer und ökonomischer Hinsicht stark genug war, um sich als Kolonialmacht zu etablieren. Dies forderten vor allem wirtschaftliche Akteure, die sogleich begannen, sich in Eigenregie Gebiete kolonial anzueignen, um dann von der deutschen Reichsregierung deren »Schutz« einzufordern. So arbeiteten Kaufleute, wie etwa der bis dahin eher erfolglose Tabakhändler Adolf Lüderitz (1834–1886) aus Bremen, gezielt darauf hin, in Afrika eine Kolonie zu gründen. Lüderitz beauftragte Heinrich Vogelsang (1862–1914), für ihn an der afrikanischen Südwestküste Land zu erwerben, um dort eine Kolonie zu errichten. Vogelsang schloss 1883 mit dem Nama-Kaptein Josef Frederiks II. (?–1893), dem damaligen Chief der !Aman-Nama von Bethanie, im heutigen Südnamibia nahe Lüderitz gelegen, einen betrügerischen Vertrag über den Kauf eines Küstenstreifens in der Bucht von Angra Pequena ab. Dabei wurde der Nama-Kaptein absichtlich im falschen Glauben über die dem Vertrag zugrunde gelegten Maßeinheiten gelassen: Statt der englischen Meile (etwa 1,6 km), die ihm bekannt war, handelte es sich um die deutsche Meile (etwa 7,5 km). Damit hatte Kaptein Josef Frederiks II. ein weit größeres Landstück verkauft als von ihm beabsichtigt. Als es dann wenig später zu ersten Auseinandersetzungen mit der lokalen Bevölkerung kam, forderte Adolf Lüderitz – zusammen mit anderen deutschen Kolonialakteuren – von der deutschen Reichsregierung militärischen Schutz für die angeeigneten Gebiete. Die eigenmächtigen Aktivitäten deutscher Kolonialakteure in Afrika strahlten nach Europa aus und bedrohten den Frieden. Daher lud Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898), entgegen seiner bisherigen Zurückweisung kolonialer Ambitionen, Ende 1884 Vertreter der europäischen Kolonialmächte zu Beratungen nach Berlin ein. Im Ergebnis der sogenannten Berliner Afrika-Konferenz, die bis Februar 1885 dauerte, wurde der afrikanische Kontinent ohne jegliche Beteiligung von Vertreter_innen der betroffenen Gesellschaften den Machtinteressen der beteiligten europäischen Staaten entsprechend aufgeteilt (Kat. 17). Dies war auf politischer Ebene der Einstieg des Deutschen Reiches in den europäischen Kolonialismus und Imperialismus. Als sogenannte Schutzgebiete, denn angeblich ging es »nur« um den »Schutz deutscher Wirtschaftsinteressen«, wurden 1884/85 zunächst Deutsch-Südwestafrika (DSW), Togo sowie Kamerun deklariert. Der Begriff »Schutzgebiet« verschleierte dabei, dass es um weit mehr als nur die Wahrung wirtschaftlicher Interessen in diesen Gebieten ging. Bis 1900 kamen Deutsch-Ostafrika (heutiges Ruanda, Burundi und Tansania – ohne Sansibar) sowie weitere Gebiete in Ozeanien hinzu, darunter Deutsch-Neuguinea und mehrere Inseln des Bismarck-Archipels (heute Papua-Neuguinea), die Marshallinseln, Salomonen, Karolinen, DeutschSamoa, Palau und die nördlichen Marianen sowie das chinesische Pachtgebiet Kiautschou, welches entgegen der Vertragslage vom Deutschen Kaiserreich zum »Schutzgebiet« erklärt wurde. Auf die kolonialen Aneignungen des Deutschen Reiches und die damit einhergehenden imperialistischen Einflussnahmen reagierten die lokalen Bevölkerungen mit Widerstand. Es kam zu vielen kleineren und drei großen Kolonialkriegen gegen die deutschen Invasoren. 1899/1900 richtete sich der chinesische Yihetuan yungdong (»Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie«) gegen imperialistische Einflussnahmen. Seine brutale Niederschlagung durch eine Allianz von acht Staaten – Frankreich, Großbritannien, Deutschland, USA, Russland, Japan, Italien, Österreich-Ungarn, zunächst unter britischer, später deutscher Führung – wird in der Geschichtsschreibung als »Boxerkrieg« bezeichnet. In Deutsch-Südwestafrika, wo den betrügerischen Landraub mittlerweile einwandernde Siedler_innen fortsetzten, riss der Widerstand gegen die deutschen Invasoren nicht ab. Ende 1893 wurde der im nordbadischen Strümpfelbrunn geborene Theodor Leutwein (1849–1921) nach DeutschSüdwestafrika gesandt, um den Widerstand der lokalen Bevölkerungen, vor allem der OvaHerero- und Nama-Gruppen, gegen die deutsche Fremdherrschaft zu brechen. Leutwein hatte in Freiburg zunächst Jura studiert, dort aber bald zum Militär mit dem Ziel einer Offizierslaufbahn gewechselt. Im Jahr 1895 wurde er Kommandeur der »Kaiserlichen Schutztruppe« in Deutsch-Südwestafrika und drei Jahre später auch Gouverneur des »Schutzgebiets«. Er schloss mit einigen OvaHerero-Chiefs und Nama-Kapteins Friedensverträge, darunter mit Samuel Maharero (1856–1923) und Hendrik Witbooi (um 1830/1834–1905). Jedoch herrschte nie wirklich Frieden in diesem »Schutzgebiet«, denn die lokalen Bevölkerungen in Deutsch-Südwestafrika wehrten sich gegen die Eindringlinge und deren Landraub. Eine Rinderpest, die etwa 70 Prozent des Viehbestands der Nama und OvaHerero, der ihre Lebensgrundlage darstellte, vernichtete, und eine Heuschreckenplage, welche die Ernten ruinierte, verschärften die Situation, sodass es 1904 zum Krieg der OvaHerero gegen die deutsche Fremdherrschaft kam, an dem sich bald auch Nama-Gruppen beteiligten. Die Erfolge, welche die OvaHerero anfangs gegen die »Schutztruppen« errangen, führten dazu, dass Leutwein als deren Kommandeur durch Lothar von Trotha (1848–1920) abgelöst wurde. Von Trotha führte den Krieg gegen die OvaHerero und Nama erklärtermaßen mit äußerster Grausamkeit

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