Leseprobe

q 38 3 Sowjetische Ehrenmale in Europa Oktoberrevolution sowie der sich anschließende Bürgerkrieg (1918–1920). Die imErstenWeltkrieg bis zu zwei Millionen gefallenen russischen Soldaten sowie die zahlreichen zivilen Opfer wurden hingegen für »den politischen Sieg im Bürgerkrieg statt [für, d. A.] die militärische Niederlage im Weltkrieg« öffentlich verschwiegen.14 Konsequenterweise wurden auch keine Denkmale zu Ehren der Gefallenen errichtet. Im privaten Raum erinnerte man sich jedoch dieses Krieges.15 Der Toten der Revolution (1917) und des Bürgerkrieges (1918–1920) – schätzungsweise waren es von 1917 bis 1920 neun bis zehn Millionen – wurde aber ebenso wenig individuell gedacht. Vielmehr wurden sichtbare Zeichen für den Sieg des Kommunismus gesetzt. Die neue »Kultstätte« wurde das Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, in dem der Leichnam Lenins als Führer der Revolution erhalten und präsentiert wurde. Die sowjetische Bevölkerung sollte gleichsam durch »die öffentliche Ausstellung des einbalsamierten Leichnams auf Lenin«16 verpflichtet werden. Offensichtlich war diese Erinnerungskultur nicht auf Trauer und Gedenken, sondern allein auf die Zukunft ausgerichtet und zielte darauf, den Einzelnen in den Dienst der Revolution, also einer utopischen Zukunftserwartung zu stellen. Auch die gefallenen Rotarmisten sollten lediglich allen Lebenden zur Wegweisung in die Zukunft dienen.17 Damit wurden die Grundlagen der spezifischen Erinnerungskultur der Stalinära gelegt. Auch hier stellte sich die Frage, welche Formen der Totenehrung und Erinnerung an die zivilen Opfer und die Gefallenen der Roten Armee im »Großen Vaterländischen Krieg« vom Staat verordnet werden sollten. Neben dem durch Stalin diktierten und allein auf ihn ausgerichteten öffentlichen Gedenken bestand kaum Raum für private Trauer. Zunächst in provisorisch eingerichteten Massengräbern beigesetzt, gab es punktuell nach 1945 durchaus private oder lokale Versuche neben Denkmalen, die einen trauernden Soldaten oder eine trauernde Frau zeigten, Stelen oder Kenotaphemit denNamen der Gefallenen zu errichten. Häufig wurden hierbei Orte gewählt, an denen bis zu ihrer Zerstörung unter Stalin Kirchen, Kapellen oder Friedhöfe bestanden hatten. Bis zu Stalins Tod im Jahr 1953 war eine offizielle Diskussion über Kriegsereignisse und -verluste jedoch verboten.18 Statt einer in Denkmalen manifestierten Trauer um alle Toten sollte in die Zukunft geschaut werden. Zur allgemeingültigen Leitlinie der Erinnerungspolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde das Erreichen einer besseren Zukunft durch kollektive Anstrengungen erklärt.19 In jenen Gebieten und Ländern, aus denen 1944/45 die Rote Armee die Wehrmacht und ihre Verbündeten zurückdrängen konnte, wurde bereits 1945 eine Reihe von Ehrenmalen errichtet, wie im Fortgang exemplarisch gezeigt wird. Darin offenbart sich das Bestreben, diese Länder unmittelbar nach ihrer Befreiung vom Nationalsozialismus in Besitz zu nehmen, wobei diese symbolische Inbesitznahme immer den Doppelcharakter von Befreiung und Besetzung besaß. Auch sollten dadurch die in der UdSSR erlittenen hohen Verluste und Zerstörungen kompensiert werden. In der Sowjetunion kames erst nach Stalins Tod 1953 unter demPartei- und späterenRegierungschef Chruščëv (1953–1964) zu einer »Visualisierung des Kriegsgedenkens auf staatlicher Ebene«.20 In der Ära Brežnev (1964– 1982) verstärkte sich diese Visualisierung um ein Vielfaches. Ein entscheidender Hintergrund für diesen nunmehr stark auf die gefallenen Soldaten und Kriegsveteranen bezogenen Totenkult lag nicht zuletzt darin begründet, dass sowohl Chruščëv als auch Brežnev zur »Veteranenkohorte« der weit vor dem»Großen Vaterländischen Krieg« geborenen und sozialisierten Soldaten gehörten, die nach Kriegsende in bekannte Strukturen zurückkehren konnten und im Laufe der Jahre einen »Bedeutungszuwachs« für ihre Kriegserlebnisse forderten.21 Dieser Bedeutungszuwachs ging nicht nur mit materiellen Vergünstigungen und der Erhebung des 9. Mai zum arbeitsfreien Tag (1965) einher,22 sondern äußerte sich vor allem in der Errichtung des Grabmals des unbekannten Soldaten an der Moskauer Kremlmauer (1966) sowie monumentaler Denkmalensembles.23 Der am 9. Mai 1960 in Leningrad eingeweihte Piskarëvskoe-Gedenkfriedhof ist der erste Denkmalkomplex, der diese Besinnung auf den »Großen Vaterländischen Krieg« sinnbildlich darstellt und nunmehr auch das Sterben der sowjetischen Zivilbevölkerung offiziell zeigt. Im Zentrum des Friedhofes, auf dem 470 000 militärische und zivile Opfer der Leningrader Blockade begraben sind, stehen die Figur der »Mutter Heimat« sowie vis à vis die Ewige Flamme. Die Namen der Verstorbenen und Gefallenen werden jedoch nicht explizit genannt. Die Toten sind hier nach Todesjahr in Massengräbern bestattet.24 Bereits 1951 hatte einer der verantwortlichen Bildhauer des Ehrenmals in Berlin-Treptow, Vučetič, erste Vorschläge für ein Ehrenmal in Stalingrad vorgelegt. Aufgrund der bereits erwähnten politischen Verände-

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