Leseprobe

3.1 Die Entwicklung des Gefallenengedenkens im deutschsprachigen Raum und in der UdSSR/Russländischen Föderation 39 q rungen – die Anlage war für »Brežnev kein Lieblingskind, weil er im Gegensatz zu Chruščëv nicht in Stalingrad gekämpft hatte«25 – konnte die Denkmalsanlage auf dem Mamajev-Kurgan in der in Volgograd umbenannten Stadt aber erst 1967 eingeweiht werden.26 Der Komplex ist aufgrund seiner Höhenlage und der Größe der Figuren – die zentrale Figur der »Mutter Heimat« misst 85 Meter und steht auf einem als Kurgan zu kennzeichnenden Erdhügel – um ein Vielfaches wuchtiger und monumentaler als die bis dahin größte Anlage dieser Art in Berlin-Treptow.27 Die Toten – bestattet sind hier etwa 35 000 Gefallene der Roten Armee, also nur ein geringer Teil der mindestens 500 000 getöteten sowjetischen Soldaten der Schlacht – sind im Kurgan beigesetzt. Einzelne »Helden der Sowjetunion« werden auch namentlich genannt, doch entscheidend war das »Heldentum« der Massen, das den »Triumph des Kommunismus über den Kapitalismus« ermöglicht habe. Zwangsläufig wurden dadurch alle Gefallenen für den Kampf des Kommunismus vereinnahmt.28 In den 1970er Jahren tauchte eine neue Sinnbesetzung des skulpturalen Denkmaltypus auf. Die Stahlwerke der Planstadt Magnitogorsk, die aufgrund der enormen Eisenerzvorkommen ab 1929 innerhalb weniger Jahre jenseits des Ural errichtet worden war, lieferten während des »Großen Vaterländischen Krieges« »fast die Hälfte des Materials für sowjetischeWaffen«.29 Hier entstand vermutlich 1979 ein Denkmal, das einen Stahlarbeiter zeigt, der mit erhobenen Armen ein überdimensionales Schwert an einen Soldaten der Roten Armee übergibt. Das Denkmal misst in der Höhe etwa 15 Meter.30 Makhotina beschreibt es – gemeinsam mit den Anlagen in Treptow (1949) und Volgograd (1967) – als Teil einer »Denkmaltriologie«. Das Schwert stelle hier das sinnstiftende Symbol dar: In Magnitogorsk geschmiedet (»Vom Hinterland – für die Front«), in der Schlacht von Stalingrad den Feind erstmals erfolgreich geschlagen (»Mutter Heimat ruft«) und im besiegten ›Hitlerdeutschland‹ gesenkt, weil der Feind besiegt und zugleich befreit wurde (»Befreiungssoldat«).31 Es ist bemerkenswert, dass die Chronologie der Denkmalserrichtung in genau umgekehrtem Verhältnis zu den erinnerten Ereignissen des Krieges steht, der in Berlin kurz nach demKrieg erprobte Denkmalstyp also annährend zwei Jahrzehnte später in die Sowjetunion gewissermaßen zurückkehrt. Den Hintergrund dieser Entwicklungen stellen Bemühungen dar, mit diesem »neuen« Denkmalstyp den Sieg des »Großen Vaterländischen Krieges« auch an die nunmehr größtenteils nach 1945 geborene Bevölkerung als sinnstiftende Erfahrung zu vermitteln. Diese Sinnstiftung fokussierte nicht mehr allein auf soldatische Opferbereitschaft und militärischen Sieg, sondern bezog etwa auch die »Helden« jenseits der Front, etwa in der wichtigen Rüstungsindustrie, ein. So entstand 1978 in Nižnevartovsk in West-Sibirien, das am Rande des größten Ölfeldes der Sowjetunion Samotlor liegt, ein zwölf Meter hohes, in Bronze gegossenes Denkmal eines Bergbauarbeiters.32 Dieser trägt einen überdimensionalen Hammer auf der Schulter und eine Schale mit dem ewigen Feuer in der anderen weit nach oben gereckten Hand. Die Inschrift »Eroberer von Samotlor« nimmt keinen direkten Bezug auf den Weltkrieg. Vielmehr parallelisiert die Inschrift die Anstrengungen der Erschließung des kriegswichtigen Rohstoffes Öl mit dem aktiven Kriegsdienst und holt damit das Heldentum gewissermaßen in die Gegenwart. Der Sieg des »Großen Vaterländischen Krieges« wird mit den Denkmalen in Magnitogorsk und Nižnevartovsk in den späten 1960er und 1970er Jahre unübersehbar an die Orte und Symbole (Öl, Schwerindustrie) der wirtschaftlichen Größe der Sowjetunion gekoppelt. Dadurchwird, ausgehend von Sieg und Heldentum der Roten Armee, die Sinnstiftung in der Gegenwart auf eine breitere Basis gestellt, da die Nachkriegsgenerationen und gegenwärtige Attribute (v. a. wirtschaftliche Prosperität) eingebunden werden. Diese wirkmächtige Konstruktion, »die dem Nachweis der ›Überlegenheit des Sozialismus‹ diente und eingebettet wurde in eine Siegesikonografie, die den Mythos des ›Heiligen Krieges‹ pflegte«,33 endete Ende der 1980er Jahre. Im Zuge der Perestroika wurde erstmals jener Preis diskutiert, den die sowjetische Gesellschaft für den ZweitenWeltkrieg zahlen musste. Neben der säkularen sowjetischen Gedenkkultur begann eine russische zu existieren, deren Erinnerungszeichen der orthodoxen Kirche zuzuordnen sind.34 Zudem wurden in den 1980er Jahren bereits bestehende Denkmalsanlagen durch religiöse Komponenten ergänzt oder ersetzt. Die Bezugspunkte »Heimat und Patriotismus« blieben aber weiterhin von Bedeutung für die Denkmalsgestaltung.35 Exemplarisch für eine bis in die Gegenwart anhaltende Erweiterung und Bedeutungsverschiebung bestehender Anlagen steht das Ehrenmal in Snegiri, einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Moskau. 1966 errichtet, zeigt es einen Soldaten mit abgenommenem Helm, der in die Ferne schaut, während die neben ihm stehen­

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