q 94 4 Das sowjetische Ehrenmal in Wien kommandanten Aleksej Blagodatov. Ein anonymer Brief eines Wiener Einwohners, der Blagodatov im Rahmen der Sitzung der alliierten Stadtkommandanten vom amerikanischen Stadtkommandanten übergeben worden war, beinhaltet die Bitte an die amerikanischen Besatzer, die Wiener »vor der Gewalt und Willkür der Russen zu schützen«. Bei einem unmittelbar folgenden Besuch in diesem Bezirk wurde der dortige Bürgermeister durch Blagodatov bezüglich der Vorwürfe befragt und zugleich gebeten, seine Aussage mit Brief und Siegel zu bestätigen. Naturgemäß verneinte der Bürgermeister die Vorwürfe, was dann auch den alliierten Stadtkommandanten so vorgetragen wurde.19 Ganz anders muten dagegen Niederschriften des vielfach zitierten österreichischen Diplomaten Josef Schöner an. ImAugust 1945 – nach der EinteilungWiens in alliierte Zonen – beklagt er: »Die Russen plündern und schleppen aus den Bezirken, deren Verwaltung sie aufgeben werden, alles weg, was sie nur können.«20 Wie distanziert sich die Führung der Roten Armee selbst gegenüber der Regierung Karl Renner zeigte, berichtet Schöner ebenso in seinemTagebuch. Er wird am 14. Juni 1945 – knapp einen Monat nach der Befreiung Wiens – beauftragt, »für den Kanzler den Vornamen Marschall Tolbuchins« – unter dessen Führung Wien eingenommen wurde – in Erfahrung zu bringen. Nach über einstündigen Telefonaten und dem Befragen aller in Frage kommenden Referate und Stellen resümiert Schöner, dass es – »bezeichnend für das allbekannte Misstrauen der Russen« – fast unmöglich sei, den Vornamen des Marschalls festzustellen.21 Ein weiterer entscheidender Umstand, der die Wiener Bevölkerung monate- bzw. jahrelang belastete, war diemangelhafte Lebensmittelversorgung. Die Rote Armee wurde dabei sowohl als Garant von Lebensmittellieferungenwahrgenommen als auch für Plünderungen verantwortlich gemacht.22 Die sogenannte »Erbsenspende«, die zum 1. Mai 1945 auf Stalins Befehl durch die Rote Armee ausgegeben wurde, bestand u. a. aus tausenden Tonnen Getreide, Mehl, Zucker, Fleisch und Erbsen.23 Naturgemäß reichten sie zur Versorgung der Wiener Bevölkerung nicht aus, weshalb zum 1. Juni 1945 aus weiteren Reserven der Roten Armee Spenden auf Kredit ausgegeben werden sollten, die Österreich später mit Waren tilgen musste. Diese Reserven bestanden jedoch zu einem erheblichen Teil aus bei Plünderungen erbeuteten Lebensmitteln sowie Lieferungen ausländischer Hilfsorganisationen.24 Zudem waren auch diese Rationen äußerst unzureichend: »vollkommenes Versagen der Zufuhr von Frischgemüse, Kartoffeln und Obst, die Märkte verödet, von der Hungerquote (850 Kalorien für Normalmenschen und 1 400 Kalorien für Schwerstarbeiter täglich) kann Fett nicht einmal in Ölform ausgegeben werden, weil die Russen keines liefern, statt Graupen werden wurmige Erbsen ausgegeben«.25 Die nicht endenwollenden Plünderungen durch die Rote Armee26 können wohl auch auf Truppenverschiebungen zurückgeführt werden, da die neu einquartierten Truppen sich erneut nahmen, was sie wollten.27 Zudem wurden Delikte, wie beispielsweise die Beschlagnahmung von Vieh, kaum noch geahndet. Bis März 1946 dauerten die Lebensmittel-Lieferungen auf Kredit an, dannmusste sie die Rote Armee – aufgrund fehlender Waren – einstellen.28 Selbst anderthalb Jahre nach Kriegsende – im November 1946 – war die Versorgung der Bevölkerung mit 1 550 täglichen Kalorien noch nicht stabil.29 Geradezu grotesk musste im April 1948 für die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Wiener Bezirke Österreichs Eintritt in die Organisation fürWirtschaftliche Europäische Zusammenarbeit (OEEC) gewirkt haben, da bis auf die sowjetisch besetzten Zonen dieMarshall-Plan-Hilfe für das restliche Österreich greifen konnte und die Lage sich dort zusehends entspannte.30 Aber auch aus der Perspektive der sowjetischen Soldaten darf nicht vergessenwerden, dass Österreich wie ein »Kulturschock« auf sie wirkte. Während in der Sowjetunion die Lebensbedingungen mehr als schlecht waren, trafen sie in Österreich – wie auch in Deutschland – trotz aller Zerstörungen auf einenWohlstand und ein Lebensniveau, die sich deutlich von dem ihrer Heimat unterschieden.31 Ein weiteres Hauptanliegen der Stadtverwaltung war der Wiederaufbau Wiens. Allein der kommunale Wohnungsbau stellte die Behörden vor große Probleme. Baumaterial für Wohnraum fehlte ebenso wie Brennmaterial. Das machte sich besonders in den ersten beiden Nachkriegswintern drastisch bemerkbar.32 Hinsichtlich der Personalpolitik innerhalb der Verwaltung dominierten »restaurative Elemente«.33 Mit demVerbotsgesetz vom 8. Mai 1945 war die NSDAP zwar endgültig verboten, und Nationalsozialisten mussten sich registrieren lassen. Mit demwenig später folgenden Beamten-Überleitungsgesetz war die Voraussetzung geschaffen, die nationalsozialistische Beamtenschaft aus Ämtern zu entfernen.34 Zugleich relativierte der sowjetische Stadtkommandant Wiens, Blagodatov, die Verfol-
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