Leseprobe

23 Das sächsische Barock und die Ägyptenfaszination des 18. Jahrhunderts1 Dirk Syndram Im frühen 18. Jahrhundert galt Ägypten nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich als sehr fernes, mythenbeladenes und gerade deshalb eigentümlich faszinierendes Land. Im Grünen Gewölbe findet sich das wohl eindrucksvollste Zeugnis der Rezeption altägyptischer Kunst im europäischen Barock: der Apis-Altar Johann Melchior Dinglingers (Abb. 1).2 In den Jahren, in denen dieses großformatige Juwelenkunstwerk entstand, ist ausgehend vom sächsisch-polnischen Hof ein ungewöhnlich starkes Interesse an der pharaonischen Kunst Ägyptens zu erkennen. Johann Melchior Dinglinger und das Alte Ägypten Das 195 Zentimeter hohe Kunstwerk lehnt sich zwar in Gestaltung und Aufbau an die Tradition wandgebundener christlicher Altäre an, es vereint allerdings in einer zuvor nie dagewesenen Fülle künstlerisch das damalige Wissen über die Götterwelt des Alten Ägypten. Das Kabinettstück, das 1738 in das mit prächtigen und kostbaren Kunstwerken bereits dicht gefüllte Juwelenzimmer der Augusteischen Schatzkammer im Grünen Gewölbe aufgenommen wurde, war das letzte Werk des am 6. März 1731 verstorbenen Hofjuweliers Johann Melchior Dinglinger. Der Apis-Altar wurde gleichsam zum persönlichen Vermächtnis des genialen Juwelenkünstlers, denn er entstand, wie die meisten seiner Kabinettstücke, ohne Auftraggeber. Dinglingers Auseinandersetzung mit den zeitfernen Mythen und Bildwelten Ägyptens war somit das Werk des dem Tode nahen 66-Jährigen, der darin die überzeitliche Weisheit einer dem Totenkult verpflichteten Kultur zu erfassen suchte. Der Apis-Altar zeugt noch heute von den hohen intellektuellen, künstlerischen und handwerklichen Fähigkeiten seines Schöpfers. Dafür steht auch die Beschriftung, die der Hofjuwelier auf dem Sockel des Obelisken anbringen ließ. Auf der linken Seite liest man: »QUAE ANTIQUA AEGYPTUS STUPIT / SUPERBA MOLIMINA / NOVA LUCE HOC OPERE SIST- / UNTUR COLLUSTRA / QOD / AD VETERUM MONUMENTO- / RUM FIDEM / NEC INDUSTRIAE PARCENS NEC / SUMPTIBUS« (frei übersetzt: Stolze Monumente, / die das Alte Ägypten bestaunte, / leben, von neuem Licht erhellt, / in diesemWerk fort, / das, / alten Denkmälern getreu / und ohne Fleiß und Kosten zu scheuen [entstand]). Auf der rechten Seite ergänzt dies die Inschrift »INVENIT STRUXIT ORNAVIT / POTENTISSIMI POLONIARUM / REGIS / FREDERICI AUGUSTI / PRIMUS OPERIS GEMMATI ARTI- / FEX / JOHANNES MELCHIOR DINGLING- / ER / DRESDAE / A D S MDCCXXXI« (Erdacht, errichtet und ausgeschmückt hat [es]/ des Großmächtigen Polenkönigs / Friedrich Augusts / Erster Juwelier, / Johann Melchior Dinglinger, / Dresden, / im Jahre des Heils 1731).3 Mit dessen anderen großen Werken der Schatzkunst teilt der Apis-Altar die Einzigartigkeit seiner Erscheinungsform, aber auch die Tatsache, dass er nicht im königlichen Auftrag, sondern zunächst aus dem Gestaltungswillen des Juwelenkünstlers und vor allem auf dessen eigenes finanzielles Risiko geschaffen wurde. Das Schaustück barocker Gelehrsamkeit, dessen Fertigung sicherlich mehr kostete als ein Stadtpalais in Dresden, erscheint in Verbindung mit dem Grünen Gewölbe am 1. März 1738 in einem Eintrag des Inspektors Johann Adam Schindler im Journal dieser Sammlung: »Den 1. Marty Ao: 1738 Haben S. Königl.: Mayt. Ein grosses Cabinet Stückh, von H: Dinglinger, die Ægyptischen opfer und abgötterey vor stellend in die geheime Verwahrung des grünen gewölbes gegeben, und befindet sich solches in den Jubellen Zimmer, auf den Tisch, wo sonst der Coffeé aufsatz gestanden.«4 Die dem Schatzkunstwerk zugrunde liegende Ikonographie ist erzählerisch durchaus konkret (Abb. 2). Im MittelAbb. 1 Apis-Altar in seiner heutigen Aufstellung im Neuen Grünen Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Grünes Gewölbe, Inv.-Nr. VIII 202

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