Leseprobe

24 punkt der Bilderflut steht der Osiris-Mythos. Das mittlere Bild des Sockels zeigt Osiris, den ägyptischen Fruchtbarkeits- und Unterweltgott, auf der Totenbahre liegend. Eingefasst wird die eingravierte Darstellung von jeweils zwei ihm opfernden Priestern. Die darüber liegende tiefe Nische, die eine auf vergoldete Platten gravierte Hieroglyphenschrift hinterfängt, widmet sich der Überfahrt des Apisstiers, der irdischen Erscheinung des Gottes Osiris, auf einer Barke über den Nil. Die plastischen Figuren sind bemerkenswert, insbesondere die beiden mit zahllosen Diamanten bedeckten Krokodile, die die beiden Ufer des Nil symbolisieren. Der wohl von Christoph Hübner geschnittene großformatige Kameo aus Achat stellt die Verehrung des diesmal hundeköpfig dargestellten Göttervaters Osiris nach seinem Tod durch seine Gattin Isis und weitere Götter des ägyptischen Pantheons dar. Das darüber angebrachte runde Emailgemälde zeigt schließlich die verklärte Sphäre des göttlichen Paares Isis und Osiris sowie ihres Kindes Horus. Weitere kleinplastische Götter finden sich auf dem Gebälk zu Füßen des 75 Zentimeter hohen Obelisken. Dieser ist eine exakte, kleinformatige Wiedergabe des altägyptischen Monuments, das 1588 in Rom vor dem Lateran aufgerichtet worden war. Auf seiner Spitze erhebt sich ein goldemaillierter Ibis, das Symbol Thots, des Gottes der Weisheit und tiefsten Erkenntnis. Die dinglichen und graphischen Quellen des Apis-Altars Das Schatzkammerstück verbindet in singulärer Weise das im frühen 18. Jahrhundert in Europa vorhandene Wissen über Religion und Kunst des Alten Ägypten. Doch wie gelangte diese seit Jahrtausenden verschüttete, geographisch kaum erreichbare Gedanken- und Formenwelt vom Nil an die Elbe? Zum einen war es die persönliche Begegnung des Juwelenkünstlers mit altägyptischen Objekten – und die war Johann Melchior Dinglinger zum Zeitpunkt seiner schöpferischen Arbeit am Apis-Altar in Dresden besonders gut gegeben. Einige Aegyptiaca befanden sich bereits in der kursächsischen Kunstkammer und in der Hofapotheke, aber mit der zwischen 1723 und 1726 erfolgten Übertragung antiker Skulpturen aus der königlich-preußischen Kunstkammer in Berlin in den Besitz Augusts des Starken kamen auch Zeugnisse der pharaonischen Kunstepoche in die Dresdner Antikensammlung. Vor allem aber war es der spektakuläre Ankauf des Nachlasses des Fürsten Agostino Chigi mit 160 Skulpturen und der 34 Antiken aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani, mit der die kurfürstlich-königliche Antikensammlung Augusts des Starken seit 1728 zu einer der frühesten und zugleich größten ihrer Art – und unter den altägyptischen Sammlungen – nördlich der Alpen wurde, denn mit den römischen Antiken gelangten auch zahlreiche Zeugnisse pharaonischer Kultur nach Dresden (vgl. den Beitrag von Loth in diesem Band). Der Architekt Baron Raymond Leplat, der langjährig als Kunstintendant und -einkäufer für August den Starken tätig war und auch die römischen Antikensammlungen nach Dresden vermittelte, publizierte diese 1733 in Folioformat in den Recueil des marbres antiques. Darin widmete er neun der großen Blätter Objekten, die er mit Ägypten in Verbindung brachte. Tatsächlich finden sich dort Motive, die Johann Melchior Dinglinger auch für sein Juwelenkunstwerk verwendete: der Apisstier, die für Europäer sehr fremdartigen Uschebtis, verschiedene Darstellungen der Sphinx sowie mehrere Idols Égyptien, wie der Gott Thot in Gestalt eines Pavians, Isis mit dem Horusknaben oder eine Statuette des Osiris.5 Nun erfolgte die Veröffentlichung der neuerworbenen Aegyptiaca 1733 und damit zwei Jahre nach demTod des Juwelenkünstlers. Auch finden sich auf den Kupferstichen nur sehr knappe und ungenaue Zuordnungen, sodass diese realen Objekte wohl nicht die inspiratorische Quelle für den von barockemWissen überquellenden Apis-Altar gewesen sein dürften. Seine Kenntnis über Kultur, Kunst und Religion der Ägypter erlangte Johann Melchior Dinglinger vielmehr durch eine bedeutende, für das 18. Jahrhundert kaum zu unterschätzende Quelle. Er war wohl der erste, der für sein Kunstschaffen auf die Bildtafeln und Deutungen des von Bernard de Montfaucon zwischen 1719 und 1724 in 15 großen Foliobänden veröffentlichten Stichwerks L’antiquité expliquée et représentée en figures zurückgriff. Das wissenschaftlich kommentierte und mit qualitativ hervorragenden Stichen versehene Werk des Benediktinerpaters entsprach der antiquarischen Gelehrsamkeit der beginnenden Aufklärung. Es umfasste neben zahlreichen Zeugnissen der Griechisch-Römischen Antike fast alle damals bekannten, als Abb. 2 Johann Melchior Dinglinger (Entwurf ); Dinglingerwerkstatt (Goldschmiedearbeiten); Christoph Hübner (Steinschnitt); Gottlieb Kirchner (Bildhauerei), unterer Teil des Apis-Altars, 1731, Kehlheimer Stein, Achat, Silber, vergoldet, Email, Edelsteine, Perlen, H. 195 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Grünes Gewölbe, Inv.-Nr. VIII 202

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