8 Die Bundeswehr in der Ära Merkel 2005–2021 Sönke Neitzel 2005 ist Deutschland sicherheitspolitisch mit sich im Reinen. Die Bundeswehr nimmt an den Stabilisierungseinsätzen auf dem Balkan und in Afghanistan teil, stellt für kleinere UNMissionen etwa im Sudan Soldaten bereit und leistet humanitäre Hilfe nach der Flutkatastrophe in Indonesien. Von Kampfeinsätzen hält man sich fern. Soldaten sind keine Krieger, sondern Aufbauhelfer, die retten und schützen. Mit diesem Kurs ist man politisch gut gefahren. Einerseits präsentiert sich Deutschland als zuverlässiger Bündnispartner, der international Verantwortung übernimmt. Andererseits wird auf die kritische Haltung der eigenen Bevölkerung Rücksicht genommen. Die Deutschen haben ihre anfängliche Skepsis gegenüber den sogenannten Out-of-area-Einsätzen in den 1990er Jahren nur langsam überwunden. Und dies auch nur, weil die Regierung die Operationen konsequent als Friedensmissionen darstellt und jede Anmutung von Krieg vermeidet. Gewiss hatte sich Deutschland 1999 am Kampfeinsatz gegen die Bundesrepublik Jugoslawien beteiligt, doch dies war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Im November 2001 musste Bundeskanzler Gerhard Schröder sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um im Parlament eine Mehrheit für die Entsendung deutscher Soldaten an den Hindukusch zusammenzubekommen. Sicherheitspolitik Als Angela Merkel im November 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wird, ahnt niemand, dass ihre lange Amtszeit zu einer der ereignisreichsten und prägendsten Phasen der Geschichte der Bundeswehr werden wird: der Krieg in Afghanistan, die ersten Gefallenen im Gefecht, die Bombardierung zweier Tanklaster nahe Kundus, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung mit einer weitgehend heruntergewirtschafteten Armee. Viele wirken in dieser Zeit an der Sicherheitspolitik mit. Aber es ist die Kanzlerin, die diese mit ihrer Richtlinienkompetenz ganz wesentlich bestimmt und eine Ära prägt. Zunächst ist die Lage ruhig. Deutschland ist von Freunden umgeben, die Vorstellung eines großen Krieges in Europa erscheint als ein Überbleibsel aus längst vergangenenTagen. Die Beteiligung an internationalen Friedensmissionen ist auf der politischen Agenda nicht mehr als eine Fußnote. Andere Themen stehen im Fokus. Als Merkel ins Kanzleramt einzieht, gibt es im Land eine Rekordarbeitslosigkeit von 4,8 Millionen. Die Lösung der sozialen Frage ist ohne Zweifel das dringendste politische Problem. 2007/08 folgt die Finanzkrise mit dem drohenden Kollaps des internationalen Bankensystems und seinen unabsehbaren globalen Folgen. 2010 beherrscht die Eurokrise die Schlagzeilen, als Griechenland zahlungsunfähig wird. Und schließlich stolpert Europa 2015 in die Flüchtlingskrise. Angesichts dieser Herausforderungen verwundert es kaum, dass die Bundeswehr nicht imMittelpunkt der Regierungspolitik steht, zumal die Kanzlerin kein enges Verhältnis zum Militär hat. Ein Staat von der Größe der Bundesrepublik kann sich auf der internationalen Bühne nicht verstecken. Schon bald weht Angela Merkel der Wind der sicherheitspolitischen Realpolitik entgegen. Auf dem NATO-Gipfel 2006 in Riga kritisieren Amerikaner und Briten harsch, dass Deutschland keineTruppen in den heftig umkämpften Süden Afghanistans
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