Leseprobe

10 und Osten sind Amerikaner und Briten in heftige Kämpfe verwickelt und auch im Norden – wo die Deutschen seit Juni 2006 die Verantwortung innehaben – gibt es immer mehr Anschläge mit selbstgebauten Sprengkörpern (IED) und Angriffe mit Handfeuerwaffen. 250 000 Paschtunen, die seit 2001 in den Süden des Landes und nach Pakistan geflohen sind, kehren nun allmählich in den Norden zurück. Viele von ihnen leben unter erbärmlichen Bedingungen. Für die Taliban und andere Aufständische ist es ein Leichtes, unter den Flüchtlingen Kämpfer zu rekrutieren. Die Bundeswehr wird gezwungen, etwas zu tun, was nie vorgesehen war: zu kämpfen. Im November 2006 ist Afghanistan erstmals Titelthema des »SPIEGEL«. »Die Deutschen müssen das Töten lernen – Wie Afghanistan zum Ernstfall wurde«, ist auf dem Cover zu lesen. Je mehr die Realität vor Ort und die offizielle Sprachregelung auseinanderklaffen, desto mehr Kritik zieht die Mission am Hindukusch auf sich. Nun rächt sich, dass Regierung und Parlament die deutsche Beteiligung am ISAF-Einsatz stets als Friedensmission beschreiben, die dazu beitrage, Menschenrechte und Demokratie nach Afghanistan zu bringen. Kampf und Tod kommen in dieser Erzählung nicht vor. Mit jedem Gefecht, das deutsche Soldaten zu bestehen haben, gerät die Bundesregierung in größere Bedrängnis. Es fehlt eine überzeugende Kommunikationsstrategie, um den Deutschen und ihren Soldaten zu erklären, was man wie am Hindukusch erreichen will. Obwohl das politische Berlin gern auf den friedlichen Charakter des eigenen Engagements in Afghanistan verweist, bleibt die Zahl der zivilen Beamten im Land überschaubar. Das Innenministerium beginnt mit gerade einmal 16 Polizisten die Herkulesaufgabe, eine afghanische National Police aufzustellen. Bis zum Abzug sind es nie mehr als 200 Beamte. Personell wird das Feld weitgehend demVerteidigungsministerium überlassen. 2006 sind 450 Soldaten im Provincial Reconstruction Team (PRT) Kundus eingesetzt, davon lediglich zehn zivile Mitarbeiter der einschlägigen Ministerien. In der öffentlichen Wahrnehmung ist Afghanistan eine Angelegenheit der Bundeswehr, zumal die eskalierende Sicherheitslage sie einmal mehr in den Mittelpunkt des deutschen Engagements rückt. ImVerteidigungsministerium ringt man seit 2006 darum, sich den Realitäten vor Ort anzupassen. Manche wollen um jeden Preis den Charakter der »Peacekeeping Operation« aufrechterhalten. Keine schwerenWaffen, kein offensives Operieren, sondern die konsequente Beschränkung auf die Aufbauhilfe. Weiche man von dieser Linie ab, werde man in einen gewaltsamen Konflikt hineingezogen, den man nicht gewinnen könne. Andere argumentieren, man müsse akzeptieren, dass es sich um einen robusteren Einsatz handelt, als ursprünglich gedacht. Die Bundeswehr solle entschlossener und mit mehr Soldaten gegen die Aufständischen vorgehen, fordert auch die NATO. Nach langem Zögern werden im Frühsommer 2009 erstmals Schützenpanzer und Mörser in Gefechten eingesetzt. Verteidigungsminister Franz Josef Jung spricht im Juni 2009 davon, dass man in einem Kampfeinsatz sei, im Oktober nimmt er dasWort »Gefallene« in den Mund. Aber erst Karl-Theodor zu Guttenberg verwendet im April 2010 das Wort »Krieg«. Bis heute sind die Meinungen geteilt, ob dieser Duktus den Konflikt richtig beschreibt. Seinerzeit ist die Anpassung der Sprache kaum zu vermeiden. Deutsche Soldaten befinden sich seit Frühjahr 2009 permanent in Gefechten mit Aufständischen, die sich immer selbstbewusster zum Kampf stellen. In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 lässt der damalige Kommandeur des Regionalen Wiederaufbauteams Kundus Oberst Georg Klein zwei von den Taliban entführte Tanklaster bombardieren. Die Zahl der Opfer kann bis heute nicht genau bestimmt werden. Der Generalbundesanwalt beziffert sie auf rund 50 Tote und Verletzte, darunter etliche Zivilisten. Die nicht mehr zu übersehende hässliche Seite des Krieges trägt dazu bei, dass die Zustimmung der Bevölkerung zum Einsatz sinkt. Erstmals lehnt eine Mehrheit den ISAF-Einsatz

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