57 Dass die Moderne unsere Antike sei, ist die These des Kurators Roger M. Buergel, die er erstmals 2004 formulierte und mit der er die von ihm verantwortete documenta 12 im Jahr 2007 bespielte.1 Mit dieser These ließe sich aber noch viel mehr anfangen; sie verdient vor allem eine genauere Exegese. Denn so kurz und einfach sie sich gibt, so viele und starke Behauptungen sind in ihr impliziert – zumindest folgende fünf: (1) Die Gegenwart ist von der an ein Ende gelangten Moderne so weit entfernt, dass ein Verhältnis dazu erst wieder eigens gesucht und definiert werden muss. (2) Die Moderne ist zugleich noch so präsent, dass sie – bemerkt oder unbemerkt – bis heute für vieles maßgeblich ist. (3) Ihre Präsenz kann sogar so weit reichen, dass für mehrere Epochen danach genügend Stoff vorhanden ist – so wie die Antike zumindest die Renaissance und dann später den Klassizismus programmatisch geprägt hat. (4) Wieman die Antike in den Phasen, in denen sie als Maßstab galt, oft als uneinholbar und erst recht als unüberbietbar einschätzte, sich ihr gegenüber also in der Defensive oder gar imModus der Dekadenz fühlte, empfindet man sich jetzt gegenüber der Moderne im Rückstand und unterlegen. (5) Wie die fortwirkende Macht der Antike immer wieder Versuche einer Emanzipation undÜberwindung provozierte und zu der einen oder anderen »Querelle des Anciens et des Modernes« führte, ist auch heute mit kalkulierten Absetzbewegungen von dem zu rechnen, was als Erbe der Moderne gilt. Diesen fünf Behauptungen liegt die noch allgemeinere Aussage zugrunde, dass es sich bei der Moderne genauso um eine Epoche handelt wie bei der Antike. Gerade daran aber gibt es auch Zweifel. Im Jahr 2002 – also zwei Jahre vor Buergels Diktum – veröffentlichte der Kunstwissenschaftler Walter Grasskamp ein Buchmit dem fragenden Titel Ist die Moderne eine Epoche?. Darin legt er dar, dass der Begriff »Moderne« seit seiner Entstehung im 5. Jahrhundert vor allem zu Zwecken der Abgrenzung verwendet wurde. Mit einem Bewusstsein für die jeweilige Gegenwart wollte man sich damit von der Antike oder – je nach Zeit und Interesse – von anderen Phasen der Vergangenheit distanzieren, für die man immer wieder neue Namen und Klassifikationen erfand. Indemder definitorische Ehrgeiz aber vornehmlich dem jeweils Nicht-Modernen galt, wurde das oder die Moderne fast nur ex negativo bestimmt – und blieb inhaltlich entsprechend unscharf. Die Moderne formierte sich also »nur in demMaße« als Epoche, als »sie den vorhergehenden [Epochen] typische Kennzeichen und klare Konturen zuwies, die sie selber nicht besaß«.2 Sie ist gar keine datierbare, sondern höchstens Die unerlöste Moderne
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