Leseprobe

65 brodelnd widersprüchlich lebensnah Es ist hier ein wohltuend frischer Wind zu spüren, der für die Auseinandersetzung mit unserer Stadtgeschichte notwendig ist, denn noch immer haftet gerade Geschichtsvereinen und historischen Museen ein gewisser Ruf der Verstaubtheit an, der nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Dabei ist die Beschäftigung mit Geschichte grundsätzlich keine antiquierte und bloß rückwärtsgewandte Angelegenheit; stets wird sie von der Gegenwart aus betrieben, mit heutigen Fragen, Interessen und Perspektiven. Es liegt also an uns, wie vital, vielseitig und kontrovers wir mit unserer Geschichte umgehen. »Die« Geschichte Hamburgs ließ sich nie und lässt sich auch in Zukunft nicht darstellen, auch nicht in der geplanten neuen Dauerausstellung des Museums. Viel interessanter wäre der Versuch, die Komplexität der städtischen Vergangenheit bis in die jeweils unmittelbare Gegenwart facettenreich zu beleuchten, dabei neuere Ansätze der Geschichtswissenschaft einzubeziehen, ohne gleich jeder Mode zu folgen, unter Berücksichtigung der weiteren Medienentwicklung unterschiedliche Vermittlungsformate zu erproben und gern einmal mutig zu sein, um Überraschendes zum Gelingen – oder auch mal zum Scheitern – zu bringen. Wie seit einigen Jahren in den Verein wären verstärkt junge Leute ins Museum zu holen, nicht nur als Publikum, sondern ebenso für Projekte, Austausch und Beratung. Alle Bevölkerungsgruppen sollten natürlich ins Museum kommen – und imMuseum vorkommen. Thematisch könnten neben den klassischen Bereichen etwa Kultur- und Alltagsgeschichte gestärkt werden; ebenso verdienten Felder wie Migrationsgeschichte oder Geschlechter- und Sexualitätengeschichte auch stadtgeschichtlich größere Aufmerksamkeit. Nicht zu vergessen wäre das selbstreflexive Moment: Die Behandlung der Legenden und (Selbst-)Bilder Hamburgs, aber auch die kritische Beschäftigung mit der eigenen Geschichte des Museums zählten hierzu – um nur diese Stichwörter zu nennen. Und schließlich noch ein Bild: die geplante Öffnung des Museumsgebäudes in Richtung Wallanlagen. Das wäre eine Hinwendung zum Leben, zur bisher merkwürdig vernachlässigten, aber brodelnden, widersprüchlichen, lebensnahen Seite, in Richtung Reeperbahn, Dom, Millerntorstadion. Kein Randdasein, sondern mittendrin, die Vergangenheit als sichtbarer Teil der Gegenwart. Wäre das nicht gerade auf St. Pauli ein ganz besonderes Ensemble?

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