Leseprobe

70 Die zwei konstruktiven Prinzipien: Tragen und Lasten Adolf Loos formulierte in seinem Aufsatz ›Ornament und Verbrechen‹ Folgendes: »Das erste ornament, das geboren wurde, das kreuz, war erotischen ursprungs. [. . .] Ein horizontaler strich: das liegende weib. Ein vertikaler strich: der sie durchdringende mann.«103 Das Vertikale wird hier mit dem ›männlichen‹ Prinzip assoziiert, das Horizontale mit dem ›Weiblichen‹. In dem Zusammenspiel beider Prinzipien äußert sich das, was man als göttlich, als vollkommen usw. beschreiben könnte. Für uns ist an dieser Stelle zunächst nur wichtig, die Vollkommenheit einer architektonischen Gestaltung imGrundgerüst auch in dem Zusammenspiel horizontaler und vertikaler Elemente zu suchen. Im konstruktiven Aufbau ist eine Architektur zudem nur vollkommen, wenn sie (sich) trägt, wenn sie festgefügt, stabil und standsicher ist. Der antike Architekturtheoretiker Vitruv nannte diese architektonische Hauptanforderung firmitas (Festigkeit). Dabei geht es schlicht um vertikale Wände und Stützen, die in der Lage sind, aufgrund ihrer materiellen und körperlichen Beschaffenheit, horizontal gelagerte Decken und Gebälke, Bögen und Gewölbe zu tragen. Erst durch dieses Zusammenspiel von vertikal tragenden und horizontal lastenden Elementen können Räume und Architekturen entstehen. Es war und ist daher naheliegend, die Architekturgestaltungen aus diesen Prinzipien abzuleiten: Dabei besteht die Möglichkeit, diese in der Architektur wirkenden Prinzipien durch die Gestaltung bewusst sichtbar zu machen oder eben nicht, indem das konstruktive Zusammenspiel beispielsweise durch die Gestaltung unterdrückt oder durch das Dekorum versteckt wird. Die historische Architektur der Antike, des Mittelalters bis zum Barock und Klassizismus war mit ihren Pfeilerstellungen, Dienstsystemen und Säulenordnungen von der Idee des ›Tragens und Lastens‹ durchdrungen. So war es in der Baukunst des Historismus, die diese historischen Stile und Gestaltungen revitalisierte, geradezu folgerichtig, dass dieses Zusammenspiel von tragenden und lastenden Teilen, von vertikalen und horizontalen Gliederungen, die historistische Architektur bestimmen würde. Wir müssen diesbezüglich jedes Fassadenteil, jedes Architekturglied und Baudetail hinsichtlich dieser Zugehörigkeit zu den Prinzipien untersuchen. Wir können dabei feststellen, dass alle Elemente in diese Gefüge tragender und lastender Teile eingebunden sind: Mal werden die Vertikalen stärker betont, mal die Horizontalen. Wir müssen jedoch nicht so weit gehen, eine Fassade, bei der horizontale Betonungen überwiegen, als ›weibliche‹ Gestaltung zu bezeichnen und eine vertikal betonte entsprechend als ›männlich‹. Wir können uns diese Zusammenhänge jedoch merken, denn es wird dadurch verständlicher, warum die eine Architektur ggf. leichter, graziler und sinnenfreudiger wirkt, eine andere dagegen etwas schwerer, kräftiger oder gar martialisch. SB Die drei gestalterischen Prinzipien: Horizontale, Vertikale und Tiefe Betrachtet man die Gebäude der Äußeren Neustadt, fällt dementsprechend auf, dass die Fassadenflächen, wie eben beschrieben, in horizontaler und vertikaler Ebene gegliedert wurden. Doch durch einzelne Bauelemente wie Gesimse, Sockel, Gebälke, Pilaster, Fensterrahmungen, Balkone etc. – die zu den prägenden Fassadenelementen der Äußeren Neustadt gehören104 – lassen sich die Häuserfronten nicht nur in horizontaler und vertikaler Hinsicht beschreiben. Wie zu zeigen sein wird, erfolgte mit den Elementen auch eine Gliederung in der Tiefe. Wie Kulissen in einem Theater können wir die Fassaden als in die Tiefe gestaffelte Gestaltungen wahrnehmen (s. Abb. 11 – 12). Diese drei Richtungen, in der Vertikalen, in der Horizontalen und in der Tiefe, sind die wesentlichen Grundmerkmale der historistischen Fassadengestaltungen und der nachfolgenden Betrachtungen.

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