91 Historisch gesehen gäbe es mindestens drei Gründe: 1. Die Moderne hat gründlich dafür gesorgt, dass wir uns von der Architektur des Historismus abwenden. Insofern gab es für Generationen keine Notwendigkeit, sich darin zu schulen, wie man solche historischen/historistischen Fassadengliederungen von unten her aufbaut und gestaltet. Wir haben verlernt, Fassaden in dieser Weise strukturell von unten nach oben, vom Großen zum Kleinen usw. zu gestalten – was auch die Farbigkeit einschließt. 2. Vielleicht hat es noch im frühen 20. Jahrhundert etliche Handwerker gegeben, die zumindest in ihrer Ausbildung erlernen durften, wie sich mit Farbgestaltungen bestimmte Gliederungen betonen und deren Wirkungen verstärken oder auch abschwächen ließen. Dieses Wissen wurde u. a. noch in den Betrieben der VEB Denkmalpflege in entsprechenden Fachkursen der Handwerksausbildung vermittelt, da zumeist diese Firmen für den Umgang mit historischer, denkmalgeschützter Bausubstanz beauftragt wurden. Die Weltkriege und auch die Wende haben sicher zu gravierenden Verlusten im Handwerkswissen beigetragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise ging es nicht darum, über ausgefeilte Gestaltungen nachzudenken. Maler (so sie den Krieg überlebt haben) waren in den ersten Nachkriegsjahren u. a. damit beschäftigt, Leimfarbe so von den Wänden zu kratzen und aufzufangen, um damit die Wände neu zu streichen oder die verwendeten Farben zu strecken. Auch der Mangel zu DDR-Zeiten hat nicht zum Nachdenken über adäquate Gestaltungen angeregt, sondern eher dafür gesorgt, dass die Fassaden über Jahrzehnte gar nicht bedacht und behandelt wurden. 3. Wenn wir heute dagegen sehen, dass Fassaden neu gestrichen werden, dann geschieht dies oft mit Farben, d. h. mit Farbsystemen und Farbtönen, die im Historismus noch gar nicht zur Verfügung standen. Wir haben uns an die breitere Farbpalette gewöhnt und können uns gar nicht vorstellen, dass die Straßenzüge über Jahrhunderte zuvor ›unbunter‹, sprich erdiger, pastelliger oder gedeckter aussahen. Aber auch vor dem Hintergrund heutiger Handlungsweisen im Zuge von Fassadenneugestaltungen lassen sich Gründe für einen undifferenzierten Umgang finden: 1. Es ist billiger, eine Fassade mit nur einem Farbton zu gestalten. Alle Putzflächen werden gleich behandelt. Man muss mit den ausführenden Handwerkern nur einen Farbton absprechen, nur eine Farbe ausmischen und kann anschließend alles in einem Zuge streichen. Ein zweiter Farbton würde Mehraufwand in der Vorbereitung bedeuten und womöglich auch Zusatzkosten bei der Ausführung verursachen. 2. Eine von dieser einfachen Bearbeitung abweichende Maßnahme wäre, bereits die Putzflächen der Spiegel stärker und mit kräftigen Schattenkanten auszubilden. Auch das verursacht Mehraufwand an Zeit und Kosten. Zudem sind womöglich diese Kanten und auch die Farbfassungen in veränderter Weise der Bewitterung ausgesetzt. Die besonderen Herausforderungen der Mehrfarbigkeit könnten jedenfalls in die Frage nach der Beständigkeit der Maßnahmen und damit in die rechtlichen und finanziellen Konsequenzen der Gewährleistung hineinspielen. Je einfacher, umso besser ist die Kontrolle und umso geringer ggf. die Gefahr von Folgeschäden und -kosten. 3. Die ›modernen‹ Farbsysteme der Dispersions- und Acrylatfarben beispielsweise erlauben ein breiteres Farbspektrum, als dies für ›historische‹ Kalkfarben der Fall war. Kein Farbhersteller würde, verständlicherweise, seine reiche Farbpalette auf einige ›historische‹ Farbtöne beschränken. Insofern haben wir uns an dieses breite Farbspektrum gewöhnt. Uns fehlt daher das Bewusstsein dafür, dass dies zu anderen Zeiten anders gewesen ist. Doch die Wahl des Farbsystems wird auch durch Umstände bestimmt, die beim Bau des Gebäudes noch keine Rolle spielten. Bei einem Neubau wird neuer, frischer Putz aufgetragen und die aufgetragenen Kalkfarben konnten frisch gestrichen werden, so dass sich durch die Versinterung des Putzes, wie bei der Freskomalerei, die Kalkfarben und ihre Pigmente sehr witterungsbeständig mit dem Putz verbinden konnten. Werden heute neue Farbanstriche auf ältere Putze
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