Leseprobe

115 Das Wichtige ist, dass Entscheidungen getroffen werden. Und Entscheidungen lassen sich nur treffen, wenn die Entscheidungs- und eben auch die Gestaltungsspielräume bekannt sind. Entscheidungsträger – Bauverständige und Eigentümer:innen als Laien – stehen somit in der Pflicht, sich durch Beschäftigung mit der Substanz und Materie diese Gestaltungsmöglichkeiten und damit die eigenen Handlungsspielräume zu eigen zu machen. Wie weit dieses Aneignen dabei gehen kann, hängt natürlich auch davon ab, wie viel Lebenszeit die entsprechenden Akteure diesen Gestaltungsfragen zu widmen bereit sind. Es verlangt eben durchaus Zeit, so man eine historistische Fassade neu gestalten möchte, sich in die Gedankenwelt, die Gestaltungsabsichten und Formensprachen des Historismus einzuarbeiten. Auch zeitlich ist diese Epoche recht weit von uns entfernt und die Frage drängt sich auf, ob wir uns alle in dieses vergangene ›Universum‹ hineindenken müssen. Für die Entscheidungen im Zuge anstehender Neugestaltungsprozesse mag das entsprechende Fachwissen einzelner Akteurskreise wohl ausreichen. Wir könnten uns selbst als Betrachter:innen und Nutzer:innen eines solchen Wohngebietes, wie der Äußeren Neustadt in Dresden, dieses tiefere Verständnis für historistische Formgebungen und Farbgestaltungen aneignen und versuchen, unser Wissen bestmöglich in die Neugestaltungen mit einzubringen. Doch wäre das zeitgemäß? Haben wir die Zeit? Und würde eine halbwegs korrekt wiederhergestellte historistische Wohnbebauung ein zeitgemäßer Raum sein, in dem wir heute leben wollen? Wir könnten diese Frage vorschnell verneinen und uns so aus der Affäre ziehen und unserer zeittypischen ›Modernität‹ eine entsprechende Berechtigung einräumen. Doch was wäre das ›Zeittypische‹ bzw. das ›Moderne‹ im Umgang mit den historischen Fassaden? Wird unsere Sicht nach wie vor durch Desinteresse bzw. die nachwirkende Ablehnung jenes aus Sicht der Moderne kritikwürdigen Zeitstils des Historismus geprägt? Oder ist es die Schnelligkeit, mit der wir unsere Lieblingsfarbtöne aus einer standardisierten, vorsortierten Farbkarte auswählen und automatisiert nachmischen lassen können? Ist es unsere Gewohnheit, unsere gegenwärtige Welt in farbenprächtigen RGB- und CMYK-Farbräumen zu gestalten und uns darin bewegen zu wollen? SB . . . oder zeitlos? Diesem Konflikt entgeht, wer sich für eine zeitlose Gestaltung und Farbigkeit entscheidet. Als zeitlos werden besonders gern weiß oder grau gestaltete Fassaden verstanden. Das geht immer. Doch diese Zeitlosigkeit beruht weniger darauf, dass wir das Weiße und Graue ›immer‹ und ›allezeit‹ als ästhetisch ansprechend und zeitgemäß wahrnehmen werden: Die Moderne hat vielleicht versucht, uns das weis(s) zu machen: Sie sah im ›Weiß‹ zu Recht das Licht repräsentiert und empfand dadurch in diesemWeiß keine Farblosigkeit, sondern eine universale Farbhaltigkeit, die sie als besonders wertvoll erachtete. Alles wurde licht, in allem war jede Farbe und jede Facette von Farbwirkung enthalten. Und Ähnliches galt auch für das Grau: Es enthält alle Farben, repräsentiert die Mischung, die Mitte von allem und ist in der Lage, sich zu jeder Zeit mit allem gleichermaßen zu verbinden. Doch die Universalität aller Eigenschaften und Wirkungen in einer solchen Essenz kondensiert und auf einen Aspekt hin konzentriert ist trügerisch, denn die Zeitlosigkeit beruht auf einer Gleichzeitigkeit all dieser Wirkungen. Diese Simultanität hat jedoch fatale Effekte und Folgen: 1. Diese Gleichzeitigkeit führt zu unguter Gleichmäßigkeit. Das Fatale ist nicht, dass sich alles gleicht, sondern dass wir alles nur noch indifferent wahrnehmen können. Niemand braucht sich mehr die Mühe zu machen und Zeit zu nehmen, über spezifische Gestaltungen nachzudenken, um durch Gestaltungen unsere Gemüter und Empfindungen auf unterschiedliche Weise anzuregen und anzusprechen. Durch diese Nivellierung werden wir allerdings sensorisch und seelisch

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