Leseprobe

6 Ornament und Vergebung: Was soll das denn bedeuten? Muss sich der Historismus bei uns entschuldigen? Oder hat die historistische Architektur unsere Entschuldigung verdient? Der polemische Titel bezieht sich auf Adolf Loos’ Text ›Ornament und Verbrechen‹ von 1908, der das besondere Spannungsverhältnis prägte, in dem wir noch heute zur Architektur des Historismus stehen.1 Die ausufernde, teilweise unreflektierte Verwendung historischer Stile hatte einstmals Kritik hervorgerufen. Der Stilentwicklung des Historismus und dem stilvermischenden Eklektizismus (s. Kap. Stile in der Äußeren Neustadt, S. 32, insb. S. 47) wurden die ›Schuld‹ dafür gegeben, dass Stile gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend als sinnentleert bis sinnlos erachtet wurden. Dieses Missfallen wurde unter anderem in der Schrift ›Ornament und Verbrechen‹ von Adolf Loos (1908) besonders greifbar: Die ornamentierende Gestaltung wurde als ›schädlich‹ und ›Schaden‹ gebrandmarkt. Diese Kritik und Stigmatisierung nutzte die Moderne, um eine von Dekorationen befreite Formensprache und Baukunst zu etablieren. Anfangs war das Diktum ›form follows function‹ durchaus noch für Gestaltungen offen gewesen, deren Formen auch dekorativer Natur sein durften. Zunehmend hatten sich diese Debatte bzw. der verbale Feldzug gegen das Ornament aber eben jenes Diktums bedient und das Ornament durch ›Funktionalität‹ oder einen auf die Gestaltung abzielenden ›Konstruktivismus‹ befördert. Das Ornament wurde geopfert. Dabei erfreute sich das Ornament noch etwa sechzig Jahre früher großer Beliebtheit: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte der Historismus seine Blütezeit. Viele historische Stile waren entdeckt, Epochen erforscht und für die eigenen Gestaltungsweisen angeeignet und adaptiert worden. Die detaillierte Untersuchung der Bautypen und Stile vertiefte die Kenntnis und verbreiterte das gestalterische Spektrum – eine Erfolgsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die Verbreitung der Formen durch vielfältige handwerkliche, kunstgewerbliche und industrielle Fertigungsmethoden führte zu einer Flut von Produkten, die Bezüge zu historischen Stilen aufwiesen. Auch ließen sich die Stile kombinieren, Stilelemente neu ordnen oder Elemente neu hinzuerfinden. Da sich Stilmerkmale besonders gut an Formen ablesen und systematisieren ließen, die das Dekor betrafen, führte die historistische Verwendung und Kombinatorik der Formen zu einem Dekorreichtum, dem sich kaum Grenzen setzen ließen. Diese qualitative und quantitative ›Entgrenzung‹ des Dekors und ihrer Stile wurde zunehmend als inflationär empfunden. Zudemwurde sie als sinnfrei und damit als wertlos wahrgenommen, als Entwertung und letztlich sogar als ›Schaden‹ erachtet – nicht zuletzt, weil dieses Ausufernde in der Gestaltung hohe Herstellungskosten verursachte. So schrieb Adolf Loos: »Noch viel größer ist der schaden, den das produzierende volk durch das ornament erleidet. Da das ornament nicht mehr ein natürliches produkt unserer kultur ist, also entweder eine rückständigkeit oder eine degenerationserscheinung darstellt, wird die arbeit des ornamentikers nicht mehr nach gebühr bezahlt.«2 Und: »Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit. So war es immer. Heute bedeutet es aber auch vergeudetes material, und Z U M Gedanken Loos’ oder gedankenlos? Eine polemische Einleitung P R O J E K T

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