9 verschleiern sämtliche Kontaktzonen zwischen der vertikalen Stütze und dem horizontalen Gebälk. Die Abakusplatte ist dafür sogar konvex eingezogen und, so gut es statisch geht, entmaterialisiert. Und an genau der Stelle, wo dann doch die Profile von Platte und Gebälk sichtbar aufeinandertreffen und Kräfteübergänge visualisieren würden, werden die Kontaktpunkte hinter Abakusblüten versteckt. Die korinthische Säule erscheint entlastet, wird zierlicher ausgeformt und dadurch sichtbar ›leichter‹ und ›jungfräulicher‹. Wir könnten auf diese Weise die Elemente der Säulenordnungen beispielsweise als Gestaltpotentiale verstehen, die unmittelbar an die Konstruktion rückgebunden wurden. Massive Architekturen können dadurch graziler gestaltet, fragile Konstruktionen dagegen optisch stabilisiert werden. Oder ist ein solches Vorgehen und Verschleiern der wahren Konstruktion ›unwahrhaftig‹? Werden die Betrachter:innen hinsichtlich der ›wahren‹ Verhältnisse der Tektonik getäuscht? Egal wo und wie wir die Grenze zwischen Konstruktion und Dekoration ziehen: Ein Großteil der in der Architekturgeschichte entwickelten Formen und Stile, die wir flächendeckend auch an den historistischen Fassaden der Äußeren Neustadt in Dresden vorfinden, betreffen eben nicht bloß schmückendes Beiwerk, sondern zielen unmittelbar auf die Sichtbarmachung konstruktiver Zusammenhänge zwischen Tragen und Lasten – die, so schmucklos eine Architektur erscheinen mag, zum Kern der Architektur vordringen: Raum (um-) bauen zu können (s. Kap. Effekte der Wirkung, S. 83). Mit einigem zeitlichen Abstand können wir heute ornamental gestaltete Bauwerke und Räume wieder wertschätzen. Wir erkennen den ästhetischen Anspruch, die gestalterischen Absichten, die handwerkliche Arbeit und die Kosten und Mühen, die nicht gescheut wurden, um solche Gestaltungen herzustellen. Wir müssen heute nicht mehr derart kritisch mit dem Historismus ins Gericht gehen und ihn als ›Verbrechen‹ (an) der Stilgeschichte diffamieren. Wir müssen nicht einmal dieses vermeintliche Verbrechen vergeben, sondern können beobachten, was uns heute historistische Gestaltung gibt. Vielleicht müssten wir sogar um Vergebung bitten: Die Architekten der Moderne haben uns auf harsche Weise weisgemacht und dazu verführt, uns vom Ornament zu befreien. Stattdessen sollten wir bereinigte, klare Formen wertschätzen, an der Funktion ausgerichtete Gestaltungen mögen, nach wahrhaftigen und zeitlosen Formen verlangen sowie deren bestenfalls fotogene Ästhetik lieben – u. v.m. Dieses Urteil, dass die Moderne über das Ornament gefällt hat, wirkt bis heute fort. Ist das (noch) gerechtfertigt? Ist das Ornament womöglich zu Unrecht verunglimpft worden? Oder hat es nach über einhundert Jahren die Strafe verbüßt? Können wir heute wieder anders auf ornamentale, historisierende Gestaltungen schauen? Die Frage ist also aus heutiger Perspektive nicht, ob historistische, formreiche Architektur doch schön und irgendwie sinnvoll und deshalb auch achtens- und schützenswert ist, sondern wie mit formsprachlichen Mitteln verfahren wurde, um das spezifische Wechselspiel architektonischer Bezüge sichtbar zu machen. SB
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