Leseprobe

Die Niederlande im Goldenen Zeitalter 28 Der »Geist des Kapitalismus« Schon der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hatte in seiner Vorlesung über Ästhetik im Wintersemester 1820/21 die Bilder in dieser Weise gedeutet: »Der Holländer hat sich zum großen Teil den Boden, darauf er wohnt und lebt, selbst gemacht und ist ihn fortdauernd gegen das Anstürmen des Meeres zu verteidigen und zu erhalten genötigt; die Bürger der Städte wie die Bauern haben durch Mut, Ausdauer und Tapferkeit die spanische Herrschaft unter Philipp II., dem Sohne Karl V., dieses mächtigen Königs der Welt, abgeworfen und sich mit der politischen ebenso die religiöse Freiheit in der Religion der Freiheit erkämpft. Diese Bürgerlichkeit und Unternehmungslust im Kleinen und im Großen, im eigenen Land, wie ins weite Meer hinaus, dieser sorgfältige und zugleich reinliche nette Wohlstand, die Froheit und Übermütigkeit in dem Selbstgefühl, dass sie dies alles ihrer eigenen Tätigkeit verdanken, ist es, was den allgemeinen Inhalt ihrer Bilder ausmacht.«4 Der von Hegel und den deutschen Klassikern verherrlichte Freiheitskampf der Niederlande ist ein nationalistischer Mythos, den seit der Gründung des niederländischen Königreichs auch die vaderlandsche geschiedenis praktizierte, jene vaterländische Geschichtsschreibung, die auch den Begriff des Goldenen Zeitalters prägte. Sie entwarf ein Bild der Niederlande, das als Ferment nationalen Selbstverständnisses und internationaler Vorurteile bis heute wirksam ist. Besonders wirkmächtig waren dabei die inzwischen widerlegten Ideen Max Webers (1864–1920) über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus.5 Bis heute gelten erfolgreicher Handel und Reinlichkeit, Bürgerfleiß und ein dem Protestantismus geschuldetes Arbeitsethos als allgemeine Kennzeichen der niederländischen Vormoderne und Teil des Nationalcharakters. Nicht selten werden dabei auch die so zahlreich überlieferten Bilder und ihre Maler und Malerinnen im Kontext dieser Grundannahme angeführt, die bei genauerer Betrachtung im Widerspruch zu den Quellen stehen. Ritter, Regenten, Religion Entgegen den heute verbreiteten Vorurteilen war auch nach der Ablösung vom habsburgischen Süden die Mehrheit der niederländischen Bevölkerung katholisch, wobei die Mehrheit der Bevölkerung gar keine Religion aktiv praktizierte.6 Noch um das Jahr 1620 waren nur etwa 20 Prozent der in der Republik lebenden Menschen Mitglied einer reformierten Gemeinde.7 Doch in allen wichtigen politischen Ämtern hatten die Reformierten die Mehrheit. Dank ihres politischen Einflusses hatten sie es auch erreicht, dass den Altgläubigen die öffentlich sichtbare Ausübung ihres Glaubens verboten wurde. Das änderte nichts daran, dass viele patrizische Familien ihrer angestammten Religion treu blieben. Ein sprechender Beleg für die Fragwürdigkeit der Deutung der niederländischen Kunst- und Kulturgeschichte aus dem Geist des Protestantismus ist der als holländischster aller Maler gepriesene Jan Vermeer (1632–1675), der mit seiner katholischen Familie fest in das Milieu der altgläubigen Delfter Oberschicht integriert war.8 Die Angehörigen der niederländischen Eliten waren nicht nur in vielen Fällen katholisch, sie pflegten auch, unabhängig von ihrer Konfession, einen Lebensstil, der sich an den Werten und Normen der höfischen Gesellschaft orientierte (Abb. 1). Wie die im 19. Jahrhundert popularisierte Idee der protestantischen Niederlande hält auch die Vorstellung einer vorherrschend bürgerlichen Kultur der Überprüfung nicht stand. So dominierte der Adel noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf allen Herrschaftsebenen, auch wenn im Verlauf des Jahrhunderts Patrizier und Kaufleute in der sich etablierenden Regentenrepublik zunehmend das Sagen hatten.9 Doch trotz des geringen Anteils

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