Leseprobe

38 Still Leben! Die Sprache der Dinge Was dieser erste Blick auf ein Stillleben wie jenes von Hannot bereits ohne vertiefende Überlegungen deutlich macht, ist dessen besondere Abhängigkeit von der aufmerksamen Betrachtung. Es fordert eine aktive Auseinandersetzung, ja lebt geradezu davon, dass wir uns zu ihm in Bezug setzen. Finden wir uns zu einer solchen Betrachtung nicht bereit, bleibt das Bild stumm; lassen wir uns auf seine Details ein, schweigt das Bild keineswegs, sondern wird zum beredten Gesprächspartner. Was ein Stillleben erzählt, wenn es mit aufmerksamer Geduld angesehen wird, hängt jedoch davon ab, welche Erwartungen an seine Betrachtung geknüpft werden: Geht es um den ästhetischen Genuss, die kennerschaftliche Freude am unverwechselbaren Stil, um verborgene Sinnschichten, eine Reflexion über den Wert der gezeigten Dinge oder gar um die dargestellten Gegenstände selbst und ihren Ursprung? Jedes Mal überrascht ein Stillleben mit anderen Geschichten. Der Begriff »Stillleben« Dass Johannes Hannots Gemälde ein Stillleben ist, würde wohl niemand bezweifeln, und vermutlich jeder Mensch hat zumindest eine vage Idee davon, was ein Stillleben ist. Eine Definition zu geben, fällt hingegen erstaunlich schwer. Ein Versuch könnte wie folgt lauten: Stillleben sind künstlerische Zusammenstellungen von Gegenständen, Pflanzen und meist unbewegten Tieren nach ästhetischen und inhaltlichen Prinzipien ohne die Wiedergabe handelnder Menschen.2 Abgesehen davon, dass eine solch knappe Definition nichts über Geschichte, Herstellung, Bedeutung oder Benutzung der so umrissenen Bilder verrät, ist auch die Begriffsbestimmung selbst nicht befriedigend. Zum einen ist sie nämlich so unkonkret, dass sie ebenso Bilder einschließen könnte, die dem allgemeinen Verständnis nach gar keine Stillleben sind. Zum anderen lassen sich leicht Gemälde benennen, die diese Definition nicht erfüllen, obwohl sie durchaus als Stillleben gelten. Ist die Darstellung von Unterholz mit Insekten und Kriechtieren ein Stillleben oder weist ein solches Bild zu viel Bewegung auf? Gilt ein Kücheninterieur noch als Stillleben, wenn Köchin oder Fischverkäufer im Raum agieren? Was ist mit Darstellungen von Hausrat in einem Hofwinkel, der Wiedergabe von Jagdbeute mit Hintergrundszene oder von Blumen und Kunstgegenständen vor einer Gartenlandschaft, ganz abgesehen von einem Marktstand samt Verkäuferin? Sie alle lassen sich ebenso mit guten Argumenten als Stillleben bezeichnen. Ihre Aufzählung macht deutlich, wie vielfältig und weitläufig dieser Bereich ist und wie schwer es dementsprechend fällt, eine treffende Definition zu finden. An den Rändern wird die Einstellung sofort unscharf. Das überrascht nicht, handelt es sich bei Stillleben doch um eine historisch gewachsene Bildgattung. Definitionsversuche und das Bemühen um ihre theoretische Einordnung erfolgten erst, als sich die neue Malereigattung voll entfaltet hatte. Mehr über die Bilder und unser Verständnis von ihnen erfahren wir deshalb, wenn wir ihre Geschichte betrachten. Zu dieser gehört selbstverständlich auch die Entstehung und Benutzung des Begriffs »Stillleben« selbst. Wo kommt er her und wie wurde er ursprünglich gebraucht? Zunächst scheint er in sich selbst widersprüchlich. »Leben« erinnert an Bewegung und Veränderung, der Wortteil »still« bezeichnet geradezu das Gegenteil davon. Ähnlich verwirrend ist die in romanischen Sprachen verwendete Bezeichnung nature morte, natura morta, also »tote Natur«. In der deutschen Sprache kam der Begriff »Stillleben« im späten 18. Jahrhundert in Gebrauch. Er ist mit dem niederländischen Wort »stilleven« verwandt, das zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine lange Tradition zurückblickte.3 Erstmals nachweisen lässt sich »stilleven« in einem Inventar von 1650.4 Schon damals muss der Begriff so gebräuchlich gewesen sein, dass seine Nennung ohne weitere Erklärung auskam. Ursprünglich stammt er aus der

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