92 Alles Käse? Produkte vom Land Getreidehandel undWeidewirtschaft Auf den ersten Blick haben die beiden Stillleben von Floris van Schooten und P. V. Plas nicht viel gemeinsam, obschon sie etwa zur selben Zeit entstanden sein dürften, was formale Eigenheiten wie der erhöhte Augenpunkt und die Vermeidung von Überschneidungen bei der Darstellung der Gegenstände nahelegen. Verführt das eine Bild mit seiner präzisen Schilderung von Details wie den Poren und Rissen im Käse zum schwelgerischen Betrachten, verweigert das andere eine solche Wahrnehmung, indem es an entscheidenden Stellen auf eine genaue Ausarbeitung der Oberflächen verzichtet, wie sich gut an der Schnittkante des Brotes beobachten lässt. Wenn die Stillleben hier dennoch gemeinsam besprochen werden, hängt das damit zusammen, dass beide exemplarisch Erzeugnisse der niederländischen Landwirtschaft zum Thema machen. Während van Schooten die teuren Endprodukte von Obstbau und Weidewirtschaft zeigte, wie sie in gehobenen Verhältnissen auf den Tisch gekommen sein mögen, stellte P. V. Plas das unveredelte Essen als notwendige Lebensgrundlage in einem einfachen Haushalt dar: Fleisch und Fisch sollen vor allem sättigen und Energie für die tägliche Arbeit liefern. Insofern erscheint es konsequent, dass sein Stillleben heute unter dem Titel Bäuerliches Frühstück firmiert. Dabei darf der Begriff »Frühstück« nicht zu wörtlich genommen werden, handelt es sich bei ihm doch um eine etwas ungenaue Übertragung des niederländischen ontbijtje – eine schon in Inventaren des 17. Jahrhunderts nachweisbare Bezeichnung für Essensstillleben, die annähernd mit »Imbiss« übersetzt werden kann. Ontbijtje beschreibt also eher einen Bildtypus als eine konkrete Mahlzeit. Auch van Schootens Stillleben mit dem Käse ließe sich als »Imbiss« kategorisieren, könnte aber auch als banketje bezeichnet werden, was dann eher die Opulenz der gedeckten Tafel betonen würde. Die ist unübersehbar. Der Käse und das Obst werden mit solchem Nachdruck präsentiert, dass sich unweigerlich das Gefühl einstellt, es ginge dem Maler vor allem um das stolze Vorzeigen der niederländischen Produkte. Es ist durchaus bemerkenswert, dass in einem so stark vom Meer geprägten Land, das nur über begrenzte Anbauflächen verfügt, Künstler:innen landwirtschaftliche Produkte als Identitätsmerkmal in Stillleben festhielten. Denkt man an die Niederlande im 17. Jahrhundert, stellen sich zunächst Bilder der Handelsnation ein. Die aufstrebenden, schnell wachsenden Städte mit ihren reich gewordenen Bürger:innen prägen die Vorstellung vom jungen Staat, nicht das flache Land. Doch tatsächlich leistete auch die Landwirtschaft einen entscheidenden Beitrag zum Wohlstand der kleinen Republik. Wie aber kam es dazu, dass gerade die Milchwirtschaft so erfolgreich war, dass die Niederlande sprichwörtlich »als Käsemarkt Europas« bezeichnet wurden und bis heute die Klischees von Kühen und Käse untrennbar mit dem Land am Meer verbunden sind? Zur Erklärung muss etwas weiter ausgeholt werden: Die Sicherung der Essensversorgung ist ein grundlegendes Problem einer jeden Gesellschaft. Überall in Europa baute man Getreide als das Grundnahrungsmittel schlechthin an, aber einen Schutz vor Ernteausfällen gab es nicht. Entsprechend groß waren die Bemühungen, Getreidehandel regional zu gestalten und Exporte zum Schutz der eigenen Bestände zu kontrollieren, in Notzeiten sogar zu unterbinden. Bereits im Mittelalter schlug das niederländische Volk hier notgedrungen einen anderen Weg ein. Auf den feuchten, vom Meer bedrohten Böden war der Getreideanbau besonders arbeitsintensiv. Nach der großen Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts gab es schlichtweg zu wenige Arbeitskräfte, um die Bevölkerung zu ernähren. Deshalb stellten viele Menschen auf die weniger arbeitsintensive Weidewirtschaft um, während Korn nun importiert werden musste.3 Das barg Risiken, weil man sich von den Lieferungen anderer Nationen abhängig machte. Die Niederländer machten aus der Not eine Tugend. Statt ihr Getreide aus vielen Ländern zu beziehen, konzentrierten sie sich immer stärker auf den Ostseeraum. Sie sicherten sich das Wohlwollen der Dänen, die den Zugang zur Ostsee kontrollierten. Durch Verbesserungen an ihren Schiffen gelang es den Niederländern, kostengünstiger als die Konkurrenz von der Hanse zu agieren, sodass sie ab dem 16. Jahrhundert den Handel mit Getreide aus dem Baltikum weitestgehend beherrschten. Ganz besonders von dieser Entwicklung profitierte die Hafenstadt Amsterdam, die sich zum Dreh- und Angelpunkt des europäischen Getreidehandels entwickelte. Die Niederländer begriffen schnell, dass die Abhängigkeit von einer einzigen Importquelle sehr heikel ist und sie in gewisser Weise erpressbar machte. Gegen solche Gefahren sicherten sie sich ab, indem sie Getreide nicht nur für sich selbst importierten. Ein Großteil wurde weiter gehandelt. So konnten sich die Bauern und Bäuerinnen im Ostseeraum sicher sein, dass ihnen ihre Ernten abgenommen wurden, während die anderen europäischen Staaten auf regelmäßige Getreidelieferungen zählen durften. Für alle Beteiligten war klar, dass man die Position der Niederländer in diesem Gefüge nicht antasten
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