Leseprobe

93 Abb. 1 N I COL AE S JANSZ . V I SSCHER D. J . Karte von Nordholland nach 1682, kolorierter Kupferstich auf Papier, 57×49 cm, Amsterdam, Allard Pierson, University of Amsterdam, HB-KZL 34.01.38 durfte, wenn man sich nicht selbst schaden wollte.4 Der Handel florierte so stark, dass 1616/17 im Zentrum Amsterdams eigens eine Kornbörse errichtet wurde. Die Niederländer wussten sehr genau, was sie dem Handel mit dem Ostseeraum zu verdanken hatten und bezeichneten ihn als moedernegotie (Mutterhandel).5 Er war die Grundlage für alle anderen Erfolge, auch jene in der Milchwirtschaft. Ob dieser Aspekt in den Stillleben ebenfalls anklingt, wenn neben Käse, Obst, Fisch und Fleisch auch Backwaren gezeigt werden, muss offenbleiben, schließlich gehörte Brot als Grundnahrungsmittel zu jeder Mahlzeit dazu. Da Essen aber nicht nur der Sättigung dient, sondern immer auch etwas über Lebensbedingungen und Kultur einer Gesellschaft verrät, ist es dennoch interessant, hier genauer hinzusehen. Plas’ Stillleben zeigt einen großen Brotlaib, der nicht mehr ganz frisch zu sein scheint. Vermutlich handelt es sich um Roggenbrot, das sich lange hielt und täglich gegessen wurde. Die Weizenbrötchen auf van Schootens Stillleben hingegen sind ein Luxusgut, benötigten fein gemahlenes und teures Mehl und wurden nur zu besonderen Anlässen und Festtagen verzehrt.6 Was aber war nun mit der Milchwirtschaft? Sie war zwar weniger arbeitsintensiv, weshalb Teile der Landbevölkerung in die Städte abwanderten und so die Urbanisierung der Region vorantrieben, bedurfte aber mehr Landfläche als der Getreideanbau. Zur Herstellung eines Kilos Butter brauchte es beispielsweise rund zehnmal so viel Fläche wie für ein Kilo Getreide.7 Das machte Milchprodukte zu einem teuren Gut, aber auch zu einer lukrativen Ware. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts konnten die meisten Bauernfamilien aufgrund ihrer begrenzten Weideflächen nicht mehr als ein oder zwei Kühe halten, was einen guten Zuverdienst bedeutete, aber nicht genügte, um allein von ihren Erzeugnissen zu leben.8 Verbesserte Transportbedingungen und zentrale Handelsplätze wie der Käsemarkt von Alkmaar vergrößerten allerdings die Verkaufsmöglichkeiten und ermutigten dadurch viele Bauern und Bäuerinnen dazu, sich auf Milchprodukte zu spezialisieren – sofern sie es sich leisten konnten.9 Obwohl nämlich im Laufe des 17. Jahrhunderts die Anzahl der Milchkühe auf den niederländischen Weiden stetig zunahm und ihre Ergiebigkeit durch Zucht immer weiter erhöht wurde, verschwanden die kleinen Bauernhöfe mit nur wenigen Tieren allmählich. An ihre Stelle traten Großbauern und -bäuerinnen, die nicht selten mehr als 20 Kühe besaßen. Das nötige Land für deren Ernährung wurde dem Meer abgerungen. Bis heute berühmte Käsesorten – wie etwa der Beemster – stammen aus Regionen, die damals trockengelegt wurden. Häufig finanzierten wohlhabende Bürger:innen aus den Städten diese technisch aufwendigen Unternehmungen und verpachteten anschließend das gewonnene Land.10 Wie groß die neuen Flächen waren, macht ein Blick auf die Karte Nordhollands von Nicolaes Jansz. Visscher (1649–1702) deutlich (Abb. 1). Grün hervorgehoben und von regelmäßigen Kanälen durchzogen sind all jene Gebiete, die dem Wasser abgetrotzt wurden. Idyllisch verklärt rahmen ein Bauernpärchen mit Käse und ein Schäfer den Titel der Karte. Für sie war die Landgewinnung existenziell, für die Städter:innen ein lukratives Geschäft, denn bald schon wurde der niederländische Käse nach ganz Europa exportiert und sogar auf den Schiffen der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) mitgeführt.

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