22 Augenlust. Welcher Begriff wäre besser geeignet, um die Wirkung eines niederländischen Stilllebens aus dem 17. Jahrhundert zu beschreiben? Unser Auge wird umschmeichelt und verführt. Unser Blick badet geradezu im Glanz exotischer Früchte und kostbarer Gefäße. Zugleich werden über unseren Sehsinn auch alle anderen Sinne aktiviert: Frischen Obstblüten entsteigt ein Hauch künftiger Süße, reife Beeren verströmen den Duft sinnlicher Fülle, delikate Pasteten lassen uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Leichte Weine versprechen ein angenehmes Prickeln auf der Zunge, glatte Silberbecher verheißen unseren Fingerspitzen verlockende Kühlung, kunstvoll geformte Instrumente lassen imaginäre Melodien erklingen und wieder verhallen. Die niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts laden dazu ein, sich an Kostbarkeiten und luxuriösen Gegenständen zu erfreuen, die Fülle des Lebens zu genießen und die Meisterschaft jener Künstler:innen zu bewundern, die mit ihrer Malerei das Vergängliche ins Dauerhafte gehoben haben. Wären die Stillleben allerdings nur schön und prächtig, würde die Augenlust vermutlich rasch erlahmen. Nicht wenigen Stillleben ist daher eine eigentümliche Spannung eingeschrieben, die mal aus kleinen Unregelmäßigkeiten, mal aus rätselhaften Motivkonstellationen und mal aus einer vielbezüglichen Symbolik erwächst. Zudem umkreisen Stillleben immer auch die Frage nach der Flüchtigkeit irdischer Güter. Mit subtilen Hinweisen wie einer vertrockneten Blüte oder einer fauligen Stelle am Obst erinnern sie uns daran, dass es keine Sinnlichkeit ohne vergängliche Körperlichkeit geben kann. Ein Stillleben ist ein Ort der Entdeckungen. Es weckt unseren Spürsinn und fordert uns auf, mit neugierigem Blick die verschiedenen Ebenen der Bildwelt zu erkunden. Augenlust? Nicht nur ein Fest für die Sinne ALEXANDRA KÄSS · JAN-DAV ID MENTZEL THORSTEN VALK
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