Leseprobe

23 Die Aufmerksamkeit und Neugier, die ein niederländisches Stillleben des 17. Jahrhunderts heute zu wecken vermag, hängt nicht nur von der Lebensnähe der gezeigten Dinge ab, sondern auch von den historischen Einblicken, die es gewährt. Der sinnliche Genuss etwa, der sich beim Betrachten eines kunstvoll zubereiteten Herings einstellt, beruht nicht nur auf einer Erinnerung an den salzigen Geschmack des gepökelten Fisches, sondern lebt auch vom Wissen um seine einstige Wertschätzung. So verband sich beispielsweise in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts mit dem Motiv des Herings immer auch der Stolz auf eine europaweit führende Fischindustrie. Jeder Gegenstand eines Stilllebens öffnet Türen in eine historische Lebenswelt, jedes Objekt lenkt unseren Blick auf eine vergangene Realität, die uns gelegentlich noch vertraut, zumeist jedoch fremd geworden ist. Den Gegenständen und Details eines Stilllebens nachzuspüren heißt daher immer, seine Referenz auf eine außerästhetische Wirklichkeit zu erfragen, mithin seinen soziokulturellen Hintergrund auszuleuchten. Dieses Ziel verfolgt auch unsere Ausstellung: Wir verweben die Betrachtung der Stillleben und ihrer Bildwelten mit einer ausgedehnten kultur- und sozialgeschichtlichen Reise in die Niederlande des 17. Jahrhunderts. Der Schatten der Wirklichkeit Warum haben wir den Titel Augenlust mit einem Fragezeichen versehen? Warum soll die lustvolle Betrachtung, mit der die Gattung des Stilllebens immer kalkuliert, fragwürdig sein? Kurzgefasst: Unsere Lust ist problematisch, sofern sie sich selbst genügt und jene Reflexion blockiert, die das Zustandekommen der auf einem Stillleben ausgebreiteten Pracht hinterfragt. Schwelgen und Reflektieren scheinen sich auf den ersten Blick nicht zu vertragen. Doch exakt diese spannungsvolle Verschränkung streben wir an. Mit unserer Ausstellung schaffen wir einer Betrachtungsweise Raum, die durchaus lustbetont ist und doch zugleich die Stillleben in den historischen Kontext ihrer Entstehungszeit einbettet. Das heißt nicht, dass wir jenen historischen Blick rekonstruieren, mit dem ein Mensch des 17. Jahrhunderts auf die Gemälde geschaut hat. Vielmehr verfolgen wir das Anliegen, ausgehend von den Stillleben ein differenziertes Bild der damaligen Lebenswelt, ihrer Bedingungen und sozialen Realitäten nachzuzeichnen. Wer diesen Weg geht, taucht ein in eine oft faszinierende und immer wieder erstaunlich moderne Welt, in der Naturwissenschaft, Entdeckergeist, Literatur und Malerei eine Blütezeit erlebten, Handel und Wirtschaft florierten. Es wird allerdings auch jene Realität des niederländischen Alltags sichtbar, die keineswegs »golden« war, sondern vielmehr von großer Armut und erdrückender Arbeitslast, von wiederkehrenden Pestwellen und hoher Kindersterblichkeit geprägt wurde. Ferner zeigt sich, dass der auf einem Stillleben oftmals inszenierte Luxus keineswegs unschuldig ist. Was begnadete Künstler:innen im 17. Jahrhundert mit unglaublicher Perfektion auf die Leinwand gebannt und im Bild festgehalten haben, musste zunächst einmal angebaut oder hergestellt, für viel Geld gehandelt und nicht selten auch aus überseeischen Kolonien importiert werden – und dies geschah oft auf fragwürdige Weise. Ausbeutung und Sklaverei müssen als die zumeist unsichtbar bleibenden Voraussetzungen für jenen Luxus und Wohlstand angesehen werden, den die Stillleben bis heute vor unseren Augen ausbreiten. Was die niederländischen Stillleben zeigen, zeugt also nicht nur von den faszinierenden Hervorbringungen der Natur und von den einzigartigen Errungenschaften menschlicher Schöpferkraft, sondern vielfach auch von globaler Marktmacht und von Wohlstand, der auf systematischer Ausbeutung beruhte. Die Stillleben haben eine Kehrseite, welche die bloße Augenlust problematisch werden lässt. Über der Pracht und dem Glanz vieler Gemälde liegt

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