Leseprobe

25 dass die Leinenpresse nicht nur ein gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand war, sondern als Schaustück auch die Reinlichkeit und Ordnung des Hauses symbolisierte. In der Zusammenschau mit einem solchen Artefakt gewinnen die präzise geplätteten Damastdecken auf einem Stillleben eine Bedeutsamkeit und Lebendigkeit, die über unser Staunen angesichts der malerischen Präzision weit hinausreichen. Freilich lässt sich nicht das gesamte Wissen so deutlich und unmittelbar an erhaltenen Gegenständen abmessen. Oft sind es daher die reich illustrierten Bücher der Zeit, die das technische Wissen und die soziale Realität in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts vergegenwärtigen. Bücher haben sich glücklicherweise in großer Zahl erhalten; schließlich war Amsterdam zur damaligen Zeit die Hauptstadt der Buchproduktion in Europa. Indem wir den Gemälden unserer Ausstellung Gebrauchsgegenstände, kunsthandwerkliche Objekte und Bücher zur Seite stellen, dehnen wir die Stillleben gleichsam in den Raum und entfalten einen ebenso facettenreichen wie nachdenklichen Blick in die Lebenswelt der Niederlande des 17. Jahrhunderts. Gemälde und flankierende Exponate spiegeln und verweben sich auf ihre eigene Art und fügen sich so zu begehbaren Erfahrungsräumen. Die Rede von Erfahrungsräumen ist dabei keineswegs metaphorisch gemeint: Tatsächlich entwickelt sich in der Ausstellung rund um jedes Stillleben auch physisch ein ganz eigener Kosmos. Jedes Gemälde birgt eigene Zusammenhänge und bietet damit die Chance, ganz unterschiedliche Aspekte des 17. Jahrhunderts in den Fokus zu rücken. Gemeinsam aber fügen sie sich zu Facetten eines umfassenderen, panoramatischen Blicks, zu Knotenpunkten eines größeren Gewebes. Durch dieses laufen unzählige Fäden, aus denen sich die Umrisse eines Bildes der Niederlande im 17. Jahrhundert spannen lassen. Die Ausstellung versteht sich als Experiment. Sie erprobt ein neues Format und versucht dabei, sowohl die ästhetische Dimension der Kunstwerke als auch ihre sozialhistorische Verwobenheit sichtbar zu machen. Wenn geglückt sein sollte, was uns während der Realisierungsphase vorschwebte, bietet sie dabei zweierlei: die lustvolle Erfahrung einer entschleunigten Bildbetrachtung und eine Reise in die Niederlande des 17. Jahrhunderts mit allen Errungenschaften und Abgründen. Der Blick auf die historische Realität hinter den Gemälden soll uns nicht die Lust an den prächtigen Bildwelten vergällen, er darf und muss uns aber durchaus daran erinnern, dass die global agierenden Niederländer:innen vor 400 Jahren, ebenso wie wir heute, ihren Wohlstand oftmals auf sozialer Ausbeutung und gewaltigen Ressourcenverschleiß gründeten. Augenlust ja, aber mit Fragezeichen.

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