Leseprobe

9 Eine solche Auswahl ist für ein Museum immer auch eine Form der Selbstvergewisserung und der Erkundung der eigenen Sammlungsidentität. Die Graphische Sammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie besaß in ihren Erwerbungen nie den breit aufgespannten Horizont großer Kabinette wie in Wien oder Berlin. Auch kannte sie nur kurze Phasen eines intensiven und zielgerichteten Bestandsaufbaus. Entstanden ist die Graphische Sammlung ähnlich wie die Gemäldesammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie 1927 mit der Zusammenführung mehrerer weit älterer Sammlungskomplexe aus ganz Anhalt im Dessauer Palais Reina (Abb. 1).3 Der wertvollste unter diesen ist eine ehemals in zwei Klebebänden aufbewahrte Kollektion deutscher und Schweizer Zeichnungen vom Spätmittelalter bis zum Barock, die erst 1877 nach Dessau gelangte. Aus ihr stammt das bis heute älteste Werk: eine böhmische Zeichnung des späten 14. Jahrhunderts, welche wahrscheinlich sogar auf das berühmte Kunstkabinett des Nürnberger Patriziers Willibald Imhoff (1519–1580) zurückgeführt werden kann (Kat.-Nr. 1). Unter den altdeutschen Blättern aus den Bänden befinden sich Spitzenwerke der heutigen Graphischen Sammlung von Künstlern wie Albrecht Dürer, Albrecht Altdorfer und Lucas Cranach d. Ä., die in der vorliegenden Auswahl nur in einzelnen Stücken Aufnahme finden konnten (Kat.-Nr. 4–11).4 Der erste Museumsführer von 1927 skizziert die Herkunft der einst in zwei Klebebänden zusammengestellten Kollektion so: »Der Gemäldegalerie ist eine graphische Sammlung angeschlossen, der als wertvollster Bestand die Handzeichnungen alter deutscher Meister angehören, die bisher die Landesbücherei aufbewahrt hat. Diese Sammlung, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts in der Schweiz, vermutlich in Zürich, zusammengebracht wurde, ist durch Erbgang von Schwarzburg-Sondershausen an die Bernburger Linie des anhaltischen Hauses gekommen. Nach deren Erlöschen wurde die Bernburgische Bibliothek nach Dessau in die damalige Behördenbibliothek überführt.«5 Abb. 2 Das 1746 erbaute Regierungsgebäude am Markt der Bernburger Talstadt beherbergte neben der anhalt-bernburgischen Landesregierung die Regierungsbibliothek, welche durch die 1748 erworbene Bibliothek der Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen wesentlich bereichert wurde. Zu ihr gehörten zwei Klebebände mit 377 deutschen und Schweizer Zeichnungen des 14. bis 17. Jahrhunderts (darunter Werke von Albrecht Dürer, Urs Graf und Albrecht Altdorfer), welche zu einem der wertvollsten Bestandteile der Zeichnungssammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie wurden. Kupferstich des Gebäudes von Johann Christian Püschel, um 1750, Anhaltische Gemäldegalerie Dessau

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