Leseprobe

11 ßische Hauptstadt schicken und sandte sie mit einem Kaufangebot für das Kupferstichkabinett zurück. Der Ballenstedter Hof hegte aber kein Interesse an einem Verkauf.10 Im Berliner Kabinett vergaß man die Zeichnungen jedoch nicht: 60 Jahre später gab dessen Direktor Max J. Friedländer (1867–1958) einen großzügig ausgestatteten Band mit einer Auswahl von 81 in Lichtdrucken reproduzierten Blättern aus der inzwischen in der Dessauer Behördenbibliothek aufbewahrten Sammlung heraus (Abb. 3). Der Verleger dieses Prachtbands war Felix Krais (1853–1937), ein Großneffe des Ballenstedter Hofpredigers Hoffmann, der so das Vorhaben seines Großonkels nach knapp 90 Jahren umsetzte.11 Nach ihrem Eingang in die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau wurden die beiden Klebebände aufgelöst und ihre Zeichnungen einzeln aufgelegt. Einige herausgehobene Stücke wurden sogar zunächst gerahmt in die Dauerausstellung der Gemälde integriert, wie der präzise und informationsreiche Museumsführer aus dem Gründungsjahr 1927 nachweist.12 Das Büchlein nennt in seinem kurzen Abriss der Sammlungsgeschichte ebenfalls die erste Ergänzung, welche diese Keimzelle der Graphischen Sammlung noch im selben Jahr erhielt: »Vor kurzem konnte eine Kollektion von etwa 50 Handzeichnungen von Ferdinand Olivier erworben werden.«13 Auch diese Zeichnungen des aus Dessau stammenden romantischen Künstlers gehören bis heute zu den Höhepunkten der Graphischen Sammlung (vgl. Kat.-Nr. 57, 61). Vorbesitzerin war diesmal die Dessauer Linie der Askanier. Vor 1918 hatte diese Dynastie das mittlerweile vereinigte Herzogtum Anhalt regiert und bewohnte 1927 noch immer das Dessauer Residenzschloss, über dessen Kunstschätze sie als Privateigentum verfügte.14 Zu diesen gehörte auch ein »Herzogliches Kupferstich-Kabinett« in der sogenannten Gipskammer (Abb. 4).15 Über dessen Entwicklung und damit auch die Geschichte des Sammelns von Zeichnungen und Druckgrafik durch das Dessauer Herrscherhaus existieren bisher keine Untersuchungen. Nur einige Streiflichter erlauben einen Eindruck von den diesbezüglichen Interessen und Aktivitäten der Fürsten und Herzöge von Anhalt-Dessau. So können über die Frage, seit wann die schon Ende des 16. Jahrhunderts als Sammlungsraum eingerichtete Gipskammer des Residenzschlosses Kunstwerke auf Papier enthielt, momentan nur Mutmaßungen angestellt werden.16 Der herzogliche Bibliothekar Heinrich Lindner (1800–1861) erwähnt 1833 in seiner Beschreibung Dessaus »in der südöstlichen Ecke des Schlosses die sog. Gipskammer, wo Kostbarkeiten [...], eine Münzsammlung, andere Kunstsammlungen und namentlich eine schöne Sammlung von Kupferstichen und Kupferwerken, vorzugsweise zur schönen Baukunst gehörig, aufbewahrt werden.«17 Dass aber im 19. Jahrhundert die Kunstwerke auf Abb. 4 Die Gipskammer des Dessauer Residenzschlosses befand sich im Erdgeschoss an der Ecke von Ost- und Südflügel. Seit ihrer Errichtung am Ende des 16. Jahrhunderts wurde sie als Sammlungsraum im Sinne eines Kunst- und Raritätenkabinetts genutzt. Aufbewahrt wurde hier vor 1945 auch die grafische Sammlung des Dessauer Herzogshauses. Bevor die Gipskammer im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört wurde, war das Herzogliche KupferstichKabinett durch die Verkäufe der 1920er- und 30er-Jahre bereits (auf kaufmännischem Wege) mehrheitlich liquidiert worden. Zumindest einen Teil hatte der Freistaat Anhalt für die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau erwerben können. Fotografie, um 1930, Stadtarchiv Dessau-Roßlau

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