Leseprobe

12 ie Entdeckung der Ölstudie ist die Rettung für die Kunst des 19. Jahrhunderts. Zuerst für die Künstler selbst, weil sie sich auf diesem Weg europaweit befreien konnten aus dem Korsett der strengen Vorgaben der Kunstlehre und aus den Erwartungshaltungen der Auftraggeber sowie der Öffentlichkeit. Danach wurde die zweite Entdeckung der Ölstudie durch die Betrachter und Sammler des Genres seit etwa 1970 zu einer Möglichkeit, in der scheinbar altmodischen, romantischen oder biedermeierlichen Malerei der ersten sechs, sieben Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts auch Lebendigkeit und Neugier wahrzunehmen – ja, gar einen ersten Lichtstreifen der Moderne. Wieso entdeckten die Künstler die Ölstudie in dieser Zeit und wie setzten sie sie ein? Worin genau liegt die fast magische Zeitlosigkeit dieser Kunstwerke? Warum erreichen sie uns 200 Jahre später viel direkter als die vollendeten Gemälde ihrer Schöpfer? Und: Seit wann galt die Ölstudie eigentlich als ›sammelwürdig‹ und was sind die Herausforderungen in puncto Zuschreibung und Datierung? Die Welt als Material Zur Funktion der Ölstudie für die Künstler Warum fangen die Künstler kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert plötzlich damit an, die Wirklichkeit unter freiem Himmel in kleinformatigen Werken in Öl auf Papier festzuhalten? Es gibt dafür drei Erklärungen – eine mentalitätsgeschichtliche, eine technische und eine praktische. Nach vielen Jahrhunderten, in denen die Künstler Landschaften mittels Stift auf Papier zu erfassen versuchten, bot die Tatsache, dass die Ölfarbe plötzlich mit auf Reisen genommen werden konnte und in der Luft sehr schnell trocknete, ganz neue Möglichkeiten.1 Dass überhaupt ein Bedürfnis danach bestand, die Natur in Farbe abzubilden, das hatte mit der veränderten Weltwahrnehmung in Zeiten von Aufklärung und Säkularisation zu tun. Je mehr das religiöse Verständnis von Himmel und Erde an Bedeutung verlor, desto mehr gerieten die Realitäten der Natur und der Wirklichkeit ins Blickfeld der Künstler. Und um sie ins Bild zu übertragen, brauchte man Wirklichkeitssplitter, die man fortan im neuen Genre der Ölstudie sammelte (Abb. 1). Hinzu kamen die gleichzeitigen großen naturwissenschaftlichen Erkenntnisschübe in Meteorologie, Vulkanologie, in der Systematisierung der Wolkenformen, in der Analyse des Lichts und der Gesteine, die Künstler parallel zu Genauigkeit und Detailreichtum in der Naturwiedergabe animierten.2 Erst in Öl (und nicht in dem leichtfüßigen und durchlässigen Medium des Aquarells) gelang es den Künstlern, das Farbspektrum des Himmels und der Erde samt all ihrer Naturerscheinungen direkt vor dem Objekt in seiner ganzen Tiefe und Prägnanz auf Papier zu übertragen – und zugleich D 1 Vgl. dazu Ann Hoenigswald, »Making their mark: The Handling of Paint in Plein Air sketches«, in: True to Nature. Open-air Painting in Europe 1780– 1870, hg. von Ger Luijten, Mary Morton und Jane Munro, Ausst.-Kat. Fondation Custodia, Paris/National Gallery of Art, Washington, D. C./The Fitzwilliam Museum, Cambridge, London 2020, S. 31– 42. 2 Legendär in diesem Zusammenhang die Weigerung Caspar David Friedrichs, dem Wunsch Goethes zu entsprechen und die Wolkenklassifikation nach Luke Howard in Ölstudien eins zu eins nachzumalen. Friedrich beharrte auf der Eigengesetzlichkeit von ›Kunst‹ und votierte gegen ihre Aufgabe als Dienstleisterin der Naturwissenschaft (der Weimarer Maler Friedrich Preller d. Ä. erfüllte dann Goethes Wunsch – und Friedrichs Befürchtung). Abb. 1 | Edme-Adolphe Fontain Isidore Dagnan beim Malen in der Natur o. J., Öl auf Leinwand, 18,4×22,7 cm Fondation Custodia, Inv. 2014-S39

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