5.1 Besondere Akzente früherer Forschung 87 q 5.1 Besondere Akzente früherer Forschung Die Forschung schenkte dem Bildprogramm des Zwettler Retabels meist besondere Beachtung, nicht zuletzt deshalb, weil diesesWerk aufgrund seines ekstatischen Stils, seiner Monumentalität und der Dichte der Figuren eines der ungewöhnlichsten Beispiele seiner Gattung darstellt. Der ästhetisch-stilistische Eindruck verunklärte jedoch häufig die ikonografische Interpretation. Zu Unrecht attestierte man dem Retabel einen ausgesprochen rätselhaften Charakter,1 vor allemwenn es um die Interpretation von Einzelelementen ging. Anzusprechen wären hier die von einem Putto präsentierte Walnuss (Abb. 23), eine Büstemit Perlenhaube (Abb. 24),2 die in der Wolkenbank unter Maria erscheint, die Hohlkehlenfigur mit rotem Birett (Abb. 37), die Mondsichel (Abb. 6) sowie jüngst auch die Inschrift des auf der Tumba liegenden, aufgeschlagenen Buches (Abb. 16). Insbesondere die Nuss und die Büste gaben bei Fragen zum Künstler und der Werkstatt Anlass zu wilden Spekulationen. In frühen Abhandlungen stand eine grundlegende Analyse der mariologischen Ikonografie im Vordergrund. So bemerkte Herbert Seiberl 1936 lediglich amRande, dass sowohl die Bedeutung der Nuss als auch des Mannes mit der Perlenhaube noch nicht zufriedenstellend geklärt seien.3 Dworschak wollte 1944 die Nuss wenig überzeugend als Hinweis auf den Künstler – seines Erachtens Hans Nussbaumaus Bamberg, der sich in der Büste selbst verewigt haben sollte – verstandenwissen, was jedoch in der Forschung zu Recht kaumBeachtung gefunden hat.4 Mit Karl Oettinger 1951 setzte sich weitgehend die Ansicht durch,5 dass das Bildprogramm eine humanistische wie auch rätselhaft-volkstümliche Prägung besäße, die bis heute noch vereinzelt das Meinungsbild bestimmt. Hier war von einer »Zauberwelt« die Rede, der »auch die Puttengnomen an[gehören], die um die Dreifaltigkeit ihr Wesen treiben [... und die] aber wieder in spukhafteWaldgeister mit zumTeil abnormen Fratzen verwandelt [werden]«.6 Auch die Gewänder schienen »durch Hexenkunst gegen die Schwere [anzutanzen]«.7 Sinnfällig wird die Annahme, der ästhetische Eindruck habe die ikonografische Analyse größtenteils beeinflusst, wenn Oettinger die Identität des Puttos mit der Walnuss kryptisch mithilfe einer Sage entschlüsseln will: Bei dem Putto handele es sich um eine »in der österreichischen Volkssage mehrfach überlieferte Gestalt, die alle Fragen beantwortet bis auf eine, warum das Kreuz in der Nuß sei«. Sie »ist Symbol desWissens von der Welt und die Nuß selbst das Welträtsel, um das sich alles Fragen und Forschen umsonst bemüht.«8 Erasmus Leisser sei als Bakkalaureus der Wiener Universität mit diesen Volkssagen sowiemit der »humanistischen Naturpoesie«9 in Berührung gekommen; für das Waldhafte und Verzauberte des Stils zeichne dagegen der Künstler verantwortlich.10 An entsprechender Stelle wird der Bedeutung dieser Motive nachgegangen. Es sei vorausgeschickt, dass sie größtenteils durch den ikonografisch-theologischen Kontext zu erklären sind und sich nahtlos in das mariologische Programm einfügen. 5.2 Ein mariologisches Programm DieWahl des Hauptthemas des Zwettler Retabels erklärt sich in erster Linie aus dem Patrozinium der Aufnahme Marias in den Himmel (Assumptio Mariae). Alle zisterziensischen Gründungen waren Maria, der Königin des Himmels und der Erde, geweiht; dies wurde in den Ordensstatuten von 1134 verbindlich festgelegt.11 Die im Zwettler Schrein dargestellten Szenen des Todes und der Auffahrt Mariens gehen nicht auf kanonische Evangelientexte, sondern auf die Apokryphen zurück. Die populärste Sammlung der durch patristische Legendenbildungen entstandenenMarienepisoden stellt die Legenda Aurea des Jakobus de Voragine (um 1262–1272)12 dar, die als sogenannte Transitus-Texte (de transitu beatae Mariae virginis oder de dormitione) zusammengefasst wurden und seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert starke Verbreitung erfuhren.13 Daneben war vor allem im lateinischen Sprachraum der frühchristliche Text über den Heimgang der seligenMaria des Pseudo-Melitos bekannt, der sich in manchen Teilen von der Legenda Aurea unterscheidet, so vor allemdarin, dass er nicht die Krönung Mariens enthält.14 In der Goldenen Legende wirdmit Verweis auf das Hohelied 4,8 auf die Krönung Bezug genommen, wenn Christus die Seele seiner Mutter mit den Worten »Komme vom Libanon meine Braut, komme vom Libanon, komm zu mir, daß du gekrönt werdest«15 in den Himmel begleitet.16 Das Zwettler Bildprogramm nimmt Motive und Themen beider Texte auf und steht kompositorisch der mittelalterlichen Bildtradition nahe, die üblicherweise den Abschied der umdie Tumba versammelten Apostel von der
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