Leseprobe

5.3 Voraussetzungen für einen alternativen Deutungsansatz für das Zwettler Retabel 89 q darüber schwebenden, meist von Engeln oder Gottvater bzw. der Trinität gekrönten Assumpta zeigt. In Zwettl gehen nicht nur die leibliche und seelische Aufnahme der Muttergottes im Beisein der Apostel als Zeugen dieses wunderhaften Ereignisses auf die Apokryphen zurück.17 Die Erzengel Gabriel heraldisch rechts (Abb. 25) und Michael heraldisch links (Abb. 26) flankieren nicht zufällig Marias Engelsheer; sie lassen sich konkret auf den frühchristlichenMelitos-Text beziehen. Beiden Erzengeln als »Hüter[n] des Paradieses und Fürst[en] des hebräischen Volkes« übergab Christus »die Seele seiner hochheiligen Mutter Maria«.18 Michael fungiert bei Marias leiblicher Aufnahme in den Himmel als Begleiter;19 Gabriel tritt zudem als Palmzweig tragender Verkünder von Marias Tod zu Beginn der Erzählung auf: »[D]a erschien ihr ein Engel in strahlendem Lichte, begrüßte sie und sprach: Ich grüße dich, vomHerrn Gebenedeite [...]; siehe ich bringe dir einen Palmzweig aus Gottes Paradies; lasse ihn vor deinem Sarge hertragen, wenn du in drei Tagen in deinem Leibe in den Himmel entrückt sein wirst.«20 Höchstwahrscheinlich war dem Zwettler Gabriel ein Palmzweig beigegeben. Aber auch der nach oben blickende Jüngling Johannes muss in den Fingern seiner linken Hand eben jenen Palmzweig gehalten haben (Abb. 15),21 den Maria zuvor von Gabriel erhalten hatte und anschließend Johannes in einemZwiegespräch anvertraute: »[D]ort zeigte sie ihm die für ihr Begräbnis bestimmten Gewänder und den leuchtenden Palmzweig, den sie vomEngel empfangen hatte, und riet ihm, er solle diesen Zweig vor ihrem Sarge tragen lassen, bis man sie an ihre Grabstätte gebracht hätte.«22 Ebenfalls auf die Überlieferung des Pseudo-Melitos geht die Beschreibung der »große[n] Schar von Engeln«, die »Lobgesänge [sangen] und den Herrn [priesen]«,23 zurück. Als nahezu wortwörtliche Umsetzung darf die Darstellung der leiblichen Aufnahme Mariens, die von der seelischen Aufnahme zeitlich getrennt wird, gelten: »Und siehe, da geschah ein weiteres Wunder. Denn ein großer Wolkenkranz erschien über dem Sarge, dem großen Ringe gleich, der den Glanz des Mondes zu umgeben pflegt. Und die himmlischen Heerscharen waren in den Wolken und sangen Hymnen, und die Erde hallte wider von den Klängen einer köstlichen Harmonie.«24 Die Wolken, die den auffahrenden Leib der Muttergottes einrahmen und die von jubilierenden und singenden Engeln bevölkert werden, wirken wie Abbilder der »Klänge einer köstlichen Harmonie«. Als eine der ersten skulpierten Umsetzungen der assumptio animae et corporis gilt das Krakauer Marienretabel von Veit Stoß (1477–1489, Abb. 74, 75).25 5.3 Voraussetzungen für einen alternativen Deutungsansatz für das Zwettler Retabel Es ist deutlich geworden, dass das Zwettler Hochaltarretabel zunächst ein konventionelles mariologisches Bildprogrammgemäß den apokryphen Überlieferungen aufweist. Dennoch bleibt der Betrachter in Hinsicht auf die bereits zum Teil angesprochenen Einzelelemente – die Walnuss, die Mondsichel und das Buch in der Mitte, die Hohlkehlenfigur, die von den Engeln gehaltenen großen Spruchbänder wie auch den Eichenbaum – mitunter ratlos zurück. Bisher ließen sie sich nur in Ansätzen erklären. So wurde dieMondsichel zwar zu Recht als bildtraditioneller Hinweis auf die Darstellung Mariens als Apokalyptisches Weib erwähnt, jedoch wurde der engere Zusammenhang des Schreinbilds mit Apokalypse 12,1 nicht erkannt. Die Identifizierung des Hohlkehlenheiligen mit rotem Birett konnte ebenso wenig zufriedenstellend geklärt werden wie etwa die Bedeutung der Walnuss. Mit der folgenden These und der ihr zugrunde liegenden Analyse soll neben der allgemeinen Interpretation ein weiterer Deutungsansatz des ikonografischen Programms des ehemaligen Zwettler Hochaltarretabels vorgestellt werden, der sowohl die schwer identifizierbaren und einzuordnenden ikonografischen Elemente als auch die Ausprägung des »expressiven« Stils schlüssig erklären kann. Mit der ikonografischen Untersuchung untrennbar verbunden ist nämlich die Frage nach demkirchenpolitischen und historischen Kontext und nach den Intentionen des Konzeptors Erasmus Leisser, das heißt hinsichtlich der Funktionen des Schnitzretabels und seiner Gestaltung. Wird man zunächst vom Gesamteindruck überfordert, wird bei näherer Betrachtung die dichte Überlagerungmehrerer mariologischer Themen augenscheinlich, die für mittelalterliche Bilder und Bildwerke zwar nicht grundsätzlich eine Seltenheit ist, die jedoch gemessen an ihrer Betonung und ihrer Summe im Zwettler Retabel eine große Besonderheit darstellt. Überhaupt muss erstaunen, dass mitten in den ersten Jahren der »konfessionellen« Debatte ein Schnitzretabel dieses Ausmaßes in Auftrag gegeben wurde. Kam dem

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