q 90 5 Ikonografische Analyse überbordenden mariologischen Programm eine besondere Funktion zu? Weshalb wurde auf einen derart ausdrucksstarken Stil zurückgegriffen? Bislang wurden diese Fragen nur unter allgemeinen Gesichtspunkten angesprochen, nämlich in Bezug auf das Patrozinium, auf den allgemeinen Zeitstil der sogenannten Donauschule, in Bezug auf den Stil als Ausdruck einer Umbruchszeit, wie auch in Bezug auf die Tradition der großen Schnitzaltäre.26 Meiner Erörterung liegt die These zugrunde, dass das Retabelprogramm eine Reaktion auf die lutherischen Neuerungen darstellt. Diese wird sowohl ikonografisch als auch durch die quellenmäßig belegbare Beteiligung Erasmus Leissers an Rekatholisierungsmaßnahmen des österreichischen Erzherzogs begründet. Dabei sei nachdrücklich auf die Problematik bei der Unterscheidung von traditionellen altgläubigen Programmen und den subsidiär als »gegenreformatorisch« oder »konfessionsparteilich« zu bezeichnenden Bildprogrammen hingewiesen: Handelt es sich »lediglich« umein rein traditionelles oder schon umein auf Martin Luthers Neuerungen reagierendes Programm? Mutet das Retabel nicht allein vor demHintergrund der erbitterten Auseinandersetzungen um Bilder, um deren Kult und schließlich umdie Existenz der alten Kirche bereits wie eine bewusste Gegenreaktion an? Lässt sich das mariologische Programm von den kirchenpolitischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Umwälzungen trennen? Diesen Fragen muss mit Bedacht nachgegangen werden; allein aufgrund einer allgemein »apokalyptischen« Gemengelage, zu der neben der Reformation unter anderem auch die Türkenbedrohung vor Wien gehörte, lassen sie sich nicht schlüssig beantworten. Dass eine derart monumentale und stilistisch wie handwerklich beeindruckende Stiftung wie das Zwettler Retabel – unter anderem– eine ausgesprochen emotionale Ansprache der Betrachter zumZiel gehabt haben muss, ist kaum zu bezweifeln. Auf den Stil wird im Kapitel 6 einzugehen sein. Bevor das ikonografische Programmauf eine »antireformatorische« Bildstrategie hin untersucht wird, müssen die historischen und kirchenpolitischen Hintergründe zumindest in groben Zügen beleuchtet werden. Die dichte Aufeinanderfolge der umstürzenden reformatorischen Vorgänge und ihre rasche Verbreitung und Rezeption lassen erahnen, dass auch Erasmus Leisser, das Kloster Zwettl und damit letztlich das dortige Retabel von ihren Auswirkungen nicht unberührt blieben. Dass die Marienikonografie dabei in erster Linie stark in der Tradition vorausgehender (Zisterzienser-) Retabel und des zisterziensischen Marienverständnisses steht, schließt die These nicht aus. Die fast schon apodiktische Inszenierung der alten Glaubenswahrheiten im Schrein ist es, die vor diesemHintergrund Zweifel an einer ausschließlich traditionellen Bildfunktion aufkommen lässt. Das Hochaltarretabel diente selbstverständlichwie üblich der Verehrung der Patronin und der Veranschaulichung der feierlichen Messliturgie, ebenso wie es memoriale Funktion besaß. Eine weitere Funktion von Retabeln und zugehörigen Messstiftungen, welche die finanzielle Versorgung von Priestern in Form von Pfründen garantierten, war die Verpflichtung der Konventualen zu immerwährenden Memorialdiensten für den oder die Stifter. Mit der mittelalterlichen Stiftungspraxis gingen das fest im Glauben verwurzelte Verständnis von der Heilswirkung von Bildern sowie die Überzeugung von der Werkgerechtigkeit einher, die dem Stifter die Sicherung seines Seelenheils ermöglichte. Dass das Retabel in dieser Tradition steht, wird insbesondere an der Flügel- und Gesprenge-Ikonografie deutlich, welche die Erlösungshoffnung vor Augen führt, in deren Rahmen Maria die prominenteste Mittlerin war.27 Für die hier formulierte Hypothese ist die Datierung des Retabels von großer Bedeutung, worauf bereits im vorausgegangenen Kapitel hingewiesen wurde. Hauptgrund für den Umstand, dass das Retabel bislang kaum mit den reformatorischen Umbrüchen in näheren Zusammenhang gebracht wurde, ist die irrige Annahme, das Retabel sei im Jahr 1516 begonnen und somit noch vor Luthers Thesenanschlag konzipiert worden. Der Fertigungszeitraumkann jedoch quellenmäßig nicht näher bestimmt werden. Aufgrund von Beobachtungen, die eine unmittelbare Reaktion auf die Reformation erkennbar werden lassen, ist allerdings von einemBeginn der Arbeiten nach 1518 auszugehen. Die Einschätzung der Fertigungsdauer eines solch großen Altaraufsatzes erweist sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage als sehr schwierig. Sicherlich war sie von der Größe der Werkstatt abhängig, aber auch Bezahlung und Werkstattorganisation oder äußere Umstände, die eine Unterbrechung veranlassten, konnten den Herstellungszeitraum beeinflussen.28
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