5.3 Voraussetzungen für einen alternativen Deutungsansatz für das Zwettler Retabel 91 q 5.3.1 Martin Luthers Haltung zu Ablass, Heiligenverehrung und Bildgebrauch – ein chronologischer Überblick Zunächst scheint es wichtig, die zeitlich dichte Aufeinanderfolge der Ereignisse umMartin Luthers »Aufbruch in die Reformation« zu rekapitulieren, umaufzuzeigen, dass eine Reaktion darauf schon in einem vergleichsweise frühenWerk wie demZwettler Retabel zumindest nicht auszuschließen ist. Der Reformtheologe verurteilte in seinen 95 Thesen vomOktober 1517 bekanntlich die päpstliche Ablasspraxis und den damit verbundenen Glauben an die Verdienstlichkeit von gutenWerken und speziell Kunstwerken aufs Schärfste. Bereits im Frühjahr des darauffolgenden Jahres waren seine Thesen an die Öffentlichkeit gedrungen, sodass sie zu einem heiß diskutierten Anliegenwurden. Bis 1519 wurden allein 45 seiner Schriften massenhaft vervielfältigt.29 Die Sicht auf die altkirchliche Frömmigkeitspraxis und damit auch auf Kunststiftungen in ihrem traditionellen Gebrauch veränderte sich rasch. Auch wenn in diesen frühen Jahren eine Spaltung in zwei Konfessionen noch längst nicht »ausbuchstabiert« war, verbreiteten sich Luthers radikale Ansichtenwie ein Lauffeuer. Seine Kritik beschränkte sich nicht bloß auf die Ablasspraxis, an der sich das Kirchenoberhaupt bereichert hatte. Zugleich lehnte er Gebetsübungenmit und vor Bildern und Bildwerken sowie den damit zusammenhängenden Glauben an deren Heilsnotwendigkeit ab.30 Gerade die Debatten umFunktion und Berechtigung der Verehrung von Heiligen und ihrer Anrufung als Mittler, die zugunsten einer rein auf der Heiligen Schrift beruhenden Lehre und Liturgie (sola scriptura) abzutun seien, dürften anmonastischen Vertretern nicht vorübergegangen sein. Den offiziellen Bruch mit der alten Kirche vollzog Luther mit seinen 1520 publizierten Schriften An den christlichen Adel deutscher Nation und Von der Freiheit eines Christenmenschen. Einen entscheidenden Beitrag zur tiefgreifenden Verunsicherung der monastischen Welt, die in eine langanhaltende Identitätskrise mündete, leistete Luthers Schrift De votis monasticis iudicium (Urteil über das Mönchsgelübde) von 1521, der ein Widmungsbrief an seinen Vater vorangestellt war (Abb. 76). Seiner persönlichen Abrechnung mit dem Mönchsgelübde lag eine fundamentale Kritik an der mönchischen Lebensformund damit denmonastischen Institutionen zugrunde, die umso glaubhafter schien, da sie aus Sicht eines ehemals Zugehörigen formuliert wurde. Diese neue theologische Gedankenbildung wirkte als unmittelbare Existenzbedrohung auf die Klöster und ihre Geistlichen, da sie sowohl das gesamte Frömmigkeitswesen mit Ausrichtung auf die Rettung des Seelenheils als auch das Selbstverständnis der Geistlichen infrage stellte. Die Ablehnung der mönchischen Gelübde ergab sich gemäß der Reformtheologie aus der Tatsache, dass die Bibel nicht zwischen den Geboten für Laien und denjenigen für Mönche unterschied, weshalb eine Unterscheidung zwischen höheren und niederen Christen nicht gerechtfertigt war. Damit wurde auch dasmönchische Vollkommenheitsideal grundsätzlich infrage gestellt. Nach Gustav Reingrabner ging es Luther vornehmlich »um die Herzensechtheit der agape, nicht um den Stand«.31 Folglichwar auch kein Verlassmehr auf die erwartete Heilsseligkeit als Folge der mönchischen Gelübde, da nicht das Handeln, sondern allein der Glaube zur Seligkeit führe. Mit der Verabschiedung vom Verständnis desmönchischen Lebens als eines per se guten Werks ging auch der Glaube an die Verdienstlichkeit von Abb. 76 Martin Luther: De votis monasticis, Martini Lutheri iudicium. Basel 1522. Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München. Titel (https://api.digitale-sammlungen.de/iiif/image/v2/bsb10204238_ 00005/full/full/0/default.jpg [30. 1. 2022])
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