Leseprobe

7.1 Stilbegriffe in der Forschung 169 q 7.1 Stilbegriffe in der Forschung »Donauschule«, »Donaustil« oder »Barockgotik«1 – mit diesen Bezeichnungen wurde das ehemalige Zwettler Hochaltarretabel bisher am häufigsten in Verbindung gebracht. In der vorliegenden Arbeit soll kein neuer Begriff für den Stil des ehemaligen Zwettler Hochaltarretabels und für stilistisch vergleichbare Werke in die Diskussion eingeführt werden. Genauso wenig sollen aber auch bereits bekannte Bezeichnungen, wie etwa »Donaustil« oder »Donauschule«, bemüht werden, die sich in der Forschung längst als ungeeignet erwiesen haben. Es wird zu zeigen sein, dass der »expressive« Zwettler Stil engmit der inhaltlichen Aussage des Retabels verknüpft ist. Aufbauend auf den Erkenntnissen der ikonografischen Analyse zeigt sich, dass demStil in erster Linie die Funktion zukommt, die Betrachter auf visuell-emotionaler Ebene von der Gültigkeit der marianischen Lehren zu überzeugen. Wilhelm Pinder hat in einem umfassenden Sinn dafür den Begriff des »spätgotischen Barocks« geprägt. Er sah darin einen Kunststil, der »nicht zufällig fast ausnahmslos da zutage getreten [ist], wo sich die alten religiösen Kräfte zur Wehr setzten, die im Kunstwerke eine seelische Sprache für das Gotteserleben wußten und suchten«.2 Ganz so weit möchte ich, einer vorsichtiger und kritischer agierenden Generation der Wissenschaft angehörend, nicht gehen. Eine prinzipielle stilistische Unterscheidbarkeit zwischen altkirchlicher und protestantischer Kunst und damit ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen altkirchlicher »Bildpropaganda« und dem»expressiven« Stil ist so einfach nicht zu konstatieren, auch wenn klar ist, dass durch das Wegfallen fast aller kirchlich-religiösen Aufträge in jenen Territorien, die die Reformation eingeführt hatten, eine solche Bildsprache hier schlicht keinen Platzmehr fand; und andererseits die »Expression« im religiösen Bereich tatsächlich eher altkirchliche Inhalte unterstrich. In dieser Arbeit sind dennoch vor allem Entstehung und Funktion des Stils des Zwettler Retabels Gegenstand der Untersuchung; die Ergebnisse sollen nicht automatisch auf ähnliche Werke, wie etwa das fast gleichzeitig, 1523 bis 1526, entstandene Breisacher Retabel des Meisters H. L. (Abb. 117, 118), angewendet werden. Ein neuer universeller Oberbegriff, der Kunstwerke häufig ausschließlich nach ihrer Form klassifiziert, würde eine scheinbare Einheitlichkeit vonWerken respektive einer »Stilströmung« propagieren, ohne diese hier nach ihren Aufgaben oder ihrem Inhalt, ihrer gegenseitigen Abgrenzung bzw. Zusammengehörigkeit befragen zu können. Die damit verbundenen Schwierigkeiten haben kritische Diskussionen um den Wert der zum Großteil irreführenden Bedeutung solcher Stilbegriffe vielfach gezeigt.3 Eine von den Zeitgenossen verwendete Bezeichnung kann für die Kunstwerke mit expressiven Tendenzen nicht nachgewiesen werden – ein bemerkenswertes Faktum, da man die aus Italien übernommenen Neuerungen sehr wohl benannte.4 Der Ansatz Alois Riegls, Stilbegriffe durch Abstraktion als höhere historische Ordnung einzuführen und dadurchWissenschaft erst zu begründen, kann also erst recht nicht Ziel dieser Arbeit sein.5 Zwar war es sein Verdienst, die kunstgeschichtlichen Stilepochen, die einem »Kunstwollen« entsprangen und damit gleichwertig nebeneinander standen, von einemallgemeinen subjektiven ästhetischen Werturteil zu lösen. Doch erfolgte eine auf der Summe äußerer Merkmale basierende Vereinheitlichung von Werken unter einem Stilbegriff, der dem Kunstwerk seine »störende Fremdartigkeit« nahm, die den Betrachter verwirren mochte und auch nicht in das geordnete Denkschema eines einheitlichen Epochenmodells passte.6 Somit bleibt der Ansatz im Wesentlichen formimmanent und billigt nur der Abstraktion historisches Gewicht zu. Eine jüngere Forschung hat denn auch – über die Morelli’sche Methode, den Künstler an seiner spezifischen Handschrift, also gleichsam grafologisch, zu erkennen – den historischen Stilbegriff diskutiert, ausgehend vom klassischen »stilus«-Begriff, der schon bei Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) im übertragenen Sinne gebraucht wurde, um das charakteristische Gepräge des Autors in der antiken Rhetorik zu beschreiben. Dabei entwickelte sich die Lehre von den genera dicendi, den verschiedenen Stillagen eines niedrigen, mittleren und hohen Stils, derer man sich je nach Thema, Aufgabe und Adressat bediente.7 Über die Anwendbarkeit solcher Vorstellungen auf mittelalterliche Kunst, wie sie Robert Suckale (1943–2020) zunächst propagierte,8 wurden inzwischen berechtigte Zweifel geäußert, so durch Wolfgang Brückle, der den bewussten Einsatz von Stil oder Stillagen kritisierte.9 Albrecht Dürer war es bekanntlich, der den antiken Begriff der Stillagen wieder in die Theorie nördlich der Alpen einbrachte.10 Grundsätzlich scheinen Stilfragen heute in der Wissenschaft eine geringe Rolle zu spielen. Dies ist problematisch, leben doch gerade deswegen im semiwissen-

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