7.1 Stilbegriffe in der Forschung 171 q schaftlichen oder »populären« Bereich Vorstellungen fort, wie sie schon Johann JoachimWinckelmann (1717– 1768) in seiner Geschichte der Kunst des Altertums von 1764 entwickelte. Er teilte antike Kunstwerke in durch einen je spezifischen Stil konstituierte, einheitliche Epochen mit einem Entwicklungsverlauf von den Anfängen über eine Hochphase bis hin zu einem Niedergang ein, die mit der jeweiligen Politik, Kultur- und Geistesgeschichte in Beziehung standen.11 Diese Vorstellung eines fortschreitenden Entwicklungsprozesses wurde auch auf Künstler übertragen, derenŒuvre in ein Früh-, Hoch- und ein Spätwerk eingeteilt wurde, wobei qualitativminderwertigere Arbeiten oft als früheWerke oder als Stücke von Mitarbeitern abgetan wurden.12 Damit verbundenwar stets einWerturteil, das die Überwindung eines alten, überkommenen Stils durch einen neuen, fortschrittlicheren Stil propagierte. Die Auffassung dieses triadischen, von biologischen Mustern von Geburt, Blütezeit und Verfall abgeschauten Entwicklungsmodells hatte bereits Giorgio Vasari (1511–1574) in seinen Vite (1550, 1568) auf die Hochphase der Renaissance bezogen.13 Trotz Erwin Panofskys (1892–1968) Ansatz einer Rückbindung des formalisierten Stilverständnisses an inhaltliche Momente14 galt Stil noch bis in die 1960er Jahre als – um mit den Worten Hans Georg Gadamers (1900–2002) zu sprechen – »undiskutierte[...] Selbstverständlichkeit[...], von [der] das historische Bewußtsein lebt«.15 Gadamer vertrat die Ansicht, Stil meine weniger einen historischen denn einen normativen Begriff, der je nach spezifischen Anforderungen angewendet werde. In dem Sinne ließ er sich auch problemlos auf den individuellen Personalstil des Künstlers übertragen. Gadamer lehnte also die Vorstellung ab, dass Stil als epochenklassifizierendes Konzept über das Verständnis von Geschichte und historischen Ereignissen entscheidet: Die Geschichte und ihre einzelnen Ereignisse dürften nicht dem Stil als Summe von »Ausdruckserscheinungen«, die eine Epoche nach außen hin charakterisieren, untergeordnet werden.16 In jüngster Zeit wurden die unterschiedlichen Faktoren, die an eine Stiluntersuchung gekoppelt sind, aufgezeigt: In der Gestaltung eines Kunstwerks schlagen sich ästhetische, politische und religiöse Inhalte nieder;17 mit der Form des Kunstwerks gehen Aufgaben einher, die dem Dargestellten wie auch dem Auftraggeber und den Betrachtern gerecht werden müssen. So formuliert Andreas Köstler: »Form, als Medium der künstlerischen Aussage begriffen, kann als Scharnier zwischen Stil und Inhalt fungieren, ist offen für beide Seiten und vermag so die früheren Dichotomien zwischen beiden Antipoden Stilgeschichte und Ikonographie abzufedern.«18 Die Untersuchung einer Stilentwicklung in historischer Perspektive, wie sie früher fast ausschließlich zur Anwendung kam, ist zu Recht vielfach kritisch diskutiert worden. Als problematisch erwiesen sich dabei schon immer Zuordnungen bzw. Ausgrenzungen von Kunstwerken in bzw. aus scheinbar einheitliche(n) Werkgruppen auf Basis formaler Kriterien.19 Wie erwähnt, gingenmit der Suggestion einer Zusammengehörigkeit von Kunstwerken aufgrund gleicher oder ähnlicher Merkmale eine Verallgemeinerung und Vereinheitlichung stilistischer Merkmale einher, ohne jedoch ihre Rolle, ihre angemessene Anwendung und Aufgabe im Einzelfall zu untersuchen. Heute kann sich »Stil« auf verschiedene Aspekte beziehen, die in gegenseitiger Abhängigkeit stehen und häufig nicht eindeutig voneinander zu trennen sind: auf die persönliche Handschrift des Künstlers oder der Werkstatt (oft als »Personalstil« bezeichnet), auf den Abb. 118 Gottvater im Mittelschrein des Hochaltaretabels. Meister H. L., 1523–1526. Breisach, St. Stefan (Foto: open source)
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