Leseprobe

q 218 8 Die für Zwettl tätige Werkstatt sind teils geöffnet, teils rund geformt oder zu einem Lächeln verzogen. Eine weitere Besonderheit stellen die Erzengel (Abb. 25, 26) und die Büstemit der Perlenhaube (Abb. 24) dar, deren breite Kopfformmit der ausgeprägten Kiefermuskulatur und den glatten, breitenWangen denen der Engel um Maria ähneln, wobei ihre Augen wesentlich länglicher und schlitzartiger angelegt sind. Maria, die sie umgebenden Engel und die Erzengel besitzen nach vorn abstehende Oberlippen, die jedoch wie ein schmaler Strich ausgebildet sind und nichts mit denwulstigen Lippen der Apostel gemein haben. Physiognomisch aus der Reihe fallen auch die geflügelten Engelchen in der oberen Zone (Abb. 29). Im Gegensatz zu den drallen Engeln mit Doppelkinn weisen sie spitz zulaufende Kinnpartien und leicht eiförmige Köpfe mit hoher, eckiger Stirn auf, die durch die wie dünne Streichhölzer über das Haupt gelegten Haare betont wird. Der scharfkantige Nasenrücken, der nur vereinzelt leicht eingedrückt ist, und der zu einemGrinsen verzogene Mund verleihen ihnen einen spitzbübisch-schelmischen Ausdruck. Von besonderer Qualität ist die à jour gearbeitete Durchhöhlung der Haare und Bärte insbesondere der Apostel, die von runden Lockennestern über lange, gewellte Haare bis hin zu dichtem Bartgestrüpp reicht. Meist werden dabei einzelne Haarpartien zu dicken Strähnen zusammengefasst, die in mehrere gefurchte Rillen unterteilt werden. Wie noch imVergleichmit anderen Arbeiten der Werkstatt zu zeigen sein wird, sind dieser besonders die korkenzieherförmigen, stark ausgehöhlten Locken eigen. Die klauenförmig gespannten Finger und Hände der Apostel sind von schmaler, dürrer und knöchriger Gestalt, wobei die Daumenkuppe bei einigen auffällig stark, beinahemissgestaltet und klumpigwirkt (Abb. 17). Den Handrücken durchzieht ein enges Geflecht aus stark hervortretenden Adern. Die Finger selbst sind größtenteils glatt, weisen aber an ihren Gelenken tiefe Rillen auf, die die Exzentrik der Männer unterstreichen. Die jugendhaften Finger Marias, der Engel in der mittleren Zone und der Erzengel sind wesentlich glatter gearbeitet (Abb. 8, 25, 26). Sie weisen keine Furchen auf. Zu unterscheiden sind zudemdie kindlichenHändchen der Putti in der oberen Zone (Abb. 28) von denen der Engel im mittleren Geschoss. Ihr Handrücken, an dem die schmalen Fingerchen ansetzen, ist sehr viel breiter und rundlicher gestaltet. Auch die Gewänder weisen eine relativ einheitliche Bearbeitungsweise auf. Alle sind von extremer Ausprägung wie die von kräftigenWindstößen erfassten Spiralen und ineinander gedrehten Kringel. Zu den auffälligsten stilprägenden Faltenmotiven gehören die bereits erwähnten »gestanzten« Faltenzüge (Abb. 28, 126), deren teils rechteckig, teils rundlich oder herzförmig geschnittene Prägungen in die Gewandoberfläche eingetieft werden. Am häufigsten treten sie bei ohrmuschelartig gedrehten Mantelteilen oder entlang der langen, glatten Gewandbereiche auf. In beiden Fällen wirkt die Oberfläche dadurch plastisch zerfurcht, wodurch die größtmögliche Modellierung der Gewänder mit Licht und Schatten erreicht wird. Auffällig sind auch die rotierenden Ärmelsäume der Erzengel, die wie Gewichte an ihren Oberarmen zu hängen scheinen. Die wie nass wirkenden Falten (Abb. 7, 9, 25, 26), bei denen das Gewand vor allem an den Beinen der Erzengel oder der Trinität klebt, während sich dazwischen feine Stege bilden, wurden bereits in ihrem Bezug zur Druckgrafik Andrea Mantegnas erwähnt.6 8.1.2 Die Figuren in der Hohlkehle Insgesamt sind bei den Figuren der Hohlkehle mit Ausnahme des hl. Hieronymus qualitative Unterschiede zu den Schreinfiguren festzustellen. Dabei übernehmen sie zum Teil deren Züge und Motive. Der hl. Hieronymus mit dem roten Birett (Abb. 34, 96) erinnert besonders hinsichtlich der breiten Kieferknochen und des fischartig gewölbten Mundes an die Apostel, doch nimmt er sich wesentlich weniger exzentrisch aus. Unterschiede ergeben sich vor allem in dem geraden, an der Spitze wie abgeschlagen wirkenden Nasensteg, der eingefallenenWangenpartie und denwenig prononcierten Augenbrauen, weshalb ein Identifikationsporträt mit dembedeutenden Humanisten Erasmus von Rotterdam erwogen wurde.7 Seine Ärmelschleppen sind im unteren Bereich mit den typischen, wie eingestanzt wirkenden Kräuselfalten versehen. Die beiden Päpste (Abb. 38, 39) sind mit Motiven der Schreinfiguren gestaltet, allerdings stark vereinfacht: Hier sind die stegartigen Faltenzüge zwischen glatt anliegenden, wie »nassen« Stoffpartien, die parallel gerillten Amikte oder die Nasolabialfalten8 aus dem bestehenden Formenschatz herausgegriffen. Die Körper insgesamt sind allerdings schon wegen der beschränkten Standorte nur leicht geschwungen und wirken, betrachtet man die im Fußbereich hart abknickenden Säume, eher grafisch-steif.

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