Leseprobe

8.1 Gestaltungsmerkmale 219 q Die beiden heiligen Frauen (Abb. 35, 36) und der Bischof (Abb. 37) sind von breiterer Statur und werden von einem vorn v-förmigen Gewand eingehüllt, das an manchen Stellen immer wieder den Blick auf darunter liegende Bereiche ermöglicht. Auch hier durchsetzen Stanzknitterfalten das am Saum scharfkantig geführte Gewand. Die Gesichter der weiblichenHeiligen erinnern mit der breiten Kieferpartie, dem zugespitzten Mund mit der dünnen Oberlippe und der hohen, ausrasierten Stirn stark an Maria. Auch weisen sie die eingerollten Locken auf, die hier aber blockhaft und weniger ausgehöhlt sind. Von der in der Kunstkammer des Stifts Zwettl erhaltenen Figur der hl. Margarethe (Abb. 42) wurde angenommen, dass sie aufgrund der Maße von 58 cm in der Hohlkehle oder im Gesprenge gestanden habe.9 Da sie nahezu vollrund ausgearbeitet ist, könnte es sich am ehesten um eine Gesprengefigur gehandelt haben.10 Sie weicht von der typischen Physiognomie der weiblichen Heiligen ab. Ihr fehlen die charakteristische Gewandbehandlung durch Stanz- oder Nassfalten und die auffälligen Ärmel- oder Kragenrillen. Zwar besitzt auch sie den auf Knöchelhöhe abstehenden Rocksaum, ein ovales undmit breiterer Kieferpartie ausgestattetes Gesicht und eine dünne, schmale Nase, was ihre Provenienz aus der Zwettler Werkstatt nahelegt, doch scheinen die aufgeblähten Pausbacken sowie der schmale, missmutig nach unten gezogeneMund ebenso singulär zu seinwie die zu Ohrschnecken gedrehten Haarknoten. Dass hier ein weniger versierter Schnitzer am Werk war, beweist die rechte Hand, deren Zeigefinger anatomisch unkorrekt am Ende der Hand nach unten zeigt. 8.1.3 Fazit Trotz des Variantenreichtums von Typen, Mimik und Gestik liegt den Figuren die gleiche Bearbeitungsweise zugrunde. Dies lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Zum einen könnteman eine Arbeitsteilung annehmen, bei der verschiedene Hände für bestimmte Typen verantwortlich gewesen sind. Zum anderen könnten die Bildhauer auf Basis genauer Typenvorlagen des leitenden Meisters jeweils für bestimmte Arbeitsabschnitte zuständig gewesen sein. Für die letztere These könnte die Beobachtung sprechen, dass in den der Werkstatt zugeschriebenen Werken auch jeweils mehrere Typen auftauchen. Es gibt allerdings eine Figur, die sich von den Übrigen deutlich unterscheidet und diemit demStil des Kruzifixes in Maria Laach am Jauerling (um 1520, Abb. 156) in engem Zusammenhang steht. Es handelt sich um Jakobus Major, der durch seinen Pilgerhut mit der Muschel ausgezeichnet ist und von demnur das Gesicht zu sehen ist. Zwar erinnern die hohen Wangenknochen und die lange, schmale Nase stark an die übrigen Apostel. Betrachtet man allerdings den Mund-, Augen- und Bartbereich genauer, ergeben sich signifikante Unterschiede. Der Augenbrauenansatz nahe der Nasenwurzel wird von zwei dicken Wülsten gekennzeichnet und durch eine schmale, aber tiefe Furche begleitet, die erst steil nach oben steigt, sich dann aber verliert. ImGegensatz zum scharfkantigen Steg mit fleischiger Wölbung der Augenbrauen der Apostel werden die eng zusammenstehenden Augen des Jakobus nur durch einen leichten Wulst nach oben hin begrenzt. Besonders augenfällig wird der Unterschied anhand des Mundes, der Abb. 156 Kruzifix. Maria Laach am Jauerling, Wallfahrtskirche. Um 1510 (ex: BRANDMAIR 2015, Kat.-Nr. 58)

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