Leseprobe

Zum Geburtstag viel Recht BUNDES VERFASSUNG JAHRE 175

Zum Geburtstag viel Recht

Herausgegeben vom Schweizerischen Nationalmuseum Landesmuseum Zürich SANDST E I N V E R L AG BUNDES VERFASSUNG JAHRE 175

4 T5 I NHA LT Denise Tonella: Vorwort U 6 Erika Hebeisen, Michael Kempf: Einleitung U 10 Josef Lang: Religionsfreiheit – ein fremder Gast in unseren Tälern U 15 Martin Lengwiler: Garantierte Privatsphäre: ein Grundrecht zwischen Staatsschutz und Schutz vor dem Staat U 23 Susanne Bennewitz: Erstmals Bürgerrecht für jüdische Schweizer U 31 Numa Graa: Entwicklung der Verfahrensgarantien im eidgenössischen Verfassungsrecht U 39 Vanessa Rüegger: Grundrechte in der Schweizer Verfassung: Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit U 47 Helen Keller: Europäisierung der schweizerischen Bundesverfassung U 55 Jacqueline Grigo: Wessen Freiheit? Zum Streit über das muslimische Kopftuch in der Schweiz U 63 Regula Argast: Gegen willkürliche Einbürgerungsentscheide: die Bundesverfassung als Korrektiv U 69 Debjani Bhattacharyya: Ein Grundrecht auf Kälte für die Schweiz? U 77 Kurzbiografien U 84 Leseempfehlungen U 86 Impressum U 88

E R I K A HE B E I S EN | M I CHA E L K EMP F Einleitung Zum 175. Geburtstag der Bundesverfassung wünscht das Nationalmuseum der Schweiz viel Recht. Mit einer Ausstellung und diesem Begleitheft schauen wir zurück auf die Geschichte der Grundrechte, die heute in der Schweizer Verfassung verankert sind. Einige Grundrechte sind schon der ersten Verfassung von 1848 eingeschrieben. Die meisten kommen später dazu, und viele wirken zuerst als ungeschriebenes Recht. Die Schweizer Bundesverfassung ist von Anfang an revidierbar. Der massgebliche Teil der heutigen Grundrechte findet dann mit der Totalrevision 1999 Eingang in die Verfassung. Die erste Verfassung der modernen Schweiz ist vor 175 Jahren nicht von einer Kommission erfunden worden und schon gar nicht vom Himmel gefallen. Sie hat prominente und mutigere Vorbilder, allen voran die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution und die amerikanische Verfassung. Zudem erblickt die Schweizer Bundesverfassung erst nach zäher und schwerer Geburt das Licht der Welt. Keineswegs ist von vornherein klar, ob sie es schaffen und lebensfähig sein wird. Ihre um einiges ambitioniertere direkte Vorläuferin, die Verfassung der Helvetischen Republik, hat sich um 1800 nur knapp fünf Jahre halten können. Der Bundesvertrag von 1815 regelt das Bündnis souveräner Kantone und ist damit keine demokratische Verfassung. Tatsächlich laufen gelernt hat die Schweizer Demokratie aber zu Beginn der 1830er Jahre in den liberalen Kantonen. Eine damals von Liberalen entworfene Bundesverfassung scheitert 1832 jedoch grandios. Sie geht als «Missgeburt» in die Schweizer Geschichte ein. In den folgenden 15 Jahren verschärfen sich innerhalb der Eidgenossenschaft die konfessionell aufgeladenen Konflikte. Der Streit zwischen Konservativen und Liberalen um das politische Fundament einer künftigen Schweiz eskaliert im November 1847 im sogenannten Sonderbundskrieg. Mithilfe der Fürsten und Monarchen

10 T11 rund um die Schweiz hätten die im Sonderbund vereinten Kantone das liberale Experiment mitten in Europa möglicherweise doch noch verhindert, wären diese Nachbarn damals nicht mit republikanischen Aufständen in ihren eigenen Ländern beschäftigt gewesen. Verschont von militärischen Interventionen von aussen und dank eines schnellen Sieges der Tagsatzungstruppen nimmt am 17. Februar 1848 in Bern tatsächlich eine Verfassungskommission ihre Arbeit auf. Diese gibt sich kompromissbereit und findet so innert nützlicher Frist zu einem mehrheitsfähigen Entwurf. Mithilfe nicht ganz lupenreiner Abstimmungsverfahren setzt sich dieser durch. Am 12. September 1848 tritt die erste Schweizer Bundesverfassung in Kraft. Mit einem Zweikammersystem kommt die Verfassung den Föderalisten entgegen und legt den Grundstein für eine zunächst repräsentative Demokratie. V Erstmals seit dem Scheitern der Helvetischen Republik entwerfen Liberale 1832/33 wieder eine demokratische Bundesverfassung. Diese wird im Bild als «Missgeburt» abgewertet. Hinten rechts sind prominente Liberale als Geburtshelfer in Aktion. Vorn im Zentrum versammeln sie sich zur «Nottaufe» eines Neugeborenen. Diesem gibt der konservative Zeichner keine Überlebenschance. Ludwig Adam Kelterborn (zugeschrieben), Konservative Karikatur auf die Revisionsarbeiten am Bundesvertrag von 1815, um 1833, Lithografie auf Papier | Schweizerisches Nationalmuseum

Die katholisch-konservativen Verlierer des Sonderbundskriegs halten sich vorerst von der Bundespolitik in Bern fern. Treibend sind die liberalen Kräfte. Sie müssen nun die verfassungsrechtlichen Errungenschaften in eine politische Praxis umsetzen. Gleichzeitig melden bald schon radikalliberale und schliesslich auch sozialistische Bewegungen ihre Interessen an. Ihr politischer Druck macht aus einer repräsentativen Demokratie für christliche Männer bis 1891 eine halbdirekte Demokratie für fast alle Männer. Auf diese politisch bewegte Gründungszeit des jungen Bundesstaats schauen fünf Beiträge dieses Begleithefts zurück. Sie befassen sich dabei mehrheitlich mit Grundrechten avant la lettre und der wichtigen Frage: Wer ist mitgemeint? Wer darf mitbestimmen? Vom Stimm- und Wahlrecht bleiben nebst kleineren Minderheiten alle Frauen und die jüdischen Männer ausgeschlossen. Dass die jüdische Emanzipation in der Schweiz gesellschaftlich wenig Rückhalt erfährt und darum die rechtliche Gleichstellung nur zögerlich vorankommt, reflektiert der Beitrag von Susanne Bennewitz. Neben der breiteren politischen Mitbestimmung ist die Pressefreiheit das gewichtigste Grundrecht in der Bundesverfassung 1848. Vanessa Rüegger zeichnet in ihrem Beitrag den Weg vom Zensurverbot bis zur Kunstfreiheit als Ausbau der Medienfreiheit. Die Religionsfreiheit garantiert die erste Schweizer Verfassung vorerst nur den beiden christlichen Konfessionen. Warum dem so war und wie brüchig die Religionsfreiheit für andere religiöse Gemeinschaften bleibt, thematisiert der Beitrag von Josef Lang. Des Weiteren erörtert Martin Lengwiler, wie sich ein Bewusstsein für den Schutz der Privatsphäre herausbildet und wessen Privatsphäre als schützenswert gilt. Und schliesslich macht sich Numa Graa auf die Suche nach frühen Ansätzen fairer Verfahren im Strafrecht, die schliesslich dank der Europäisierung der Schweizer Rechtsprechung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Eingang in die Bundesverfassung finden. Über 120 Jahre lang bleibt der schweizerische Bundesstaat eine reine Männerdemokratie. Erst mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 erhalten die Schweizerinnen das Recht, politisch mitzu-

12 T13 bestimmen. Ausgehend von diesem grossen Demokratisierungsschritt befassen sich die Ausstellung und dieses Begleitbuch mit der Ausbildung von Grundrechten, die in die heute gültige Verfassung von 1999 Eingang gefunden haben. Mit der Ratifizierung der europäischen Menschenrechtskonvention 1974 fügt sich die Schweiz in ein übergeordnetes Rechtssystem ein. Die Urteile vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg sind von nun an zusammen mit den Bundesgerichtsurteilen und den Volksinitiativen Verfassung-in-the-making. Wie europäische Grundrechte konkret Eingang in die Schweizer Bundesverfassung gefunden haben, erörtert Helen Keller in ihrem Beitrag. Regula Argast zeigt mit einem Fallbeispiel zur Einbürgerungspraxis in den 1960er Jahren, welche Ideologien gegen die politische Teilhabe von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz bis heute wirken. Und dass Religionsfreiheit auch im späten 20. Jahrhundert nicht für alle religiösen Gemeinschaften gleiche Gültigkeit hat, reflektiert Jacqueline Grigo am Breispiel von Debatten und juristischen Verhandlungen über das Kopftuch muslimischer Frauen. Die Schweizer Bundesverfassung vermag, wie die hier versammelten Beiträge zeigen, gesellschaftlichen Wandel zu integrieren, weil sie revidierbar und offen für Ergänzungen ist. Das wird auch künftig nötig sein, wenn es um das demokratische Aushandeln kontroverser politischer Themen geht: Soll die ausländische Wohnbevölkerung – zwischenzeitlich ein Viertel aller in der Schweiz lebenden Menschen – politisch mitbestimmen? Was braucht es in einer Verfassung und was eben auch nicht, damit Religionsfreiheit für alle gilt? Wie lassen sich Tech-Giganten dazu bewegen, die Privatsphäre ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu respektieren? Oder wie kann der Klimakrise verfassungsrechtlich adäquat begegnet werden? In diesem Sinn fragt der Ausblick von Debjani Bhattacharyya in diesem Heft: Braucht die Schweiz ein Recht auf Kälte?

BV 1874, Art. 49 Die Glaubens- und freiheit unverletzlich Gewissens- ist

14 T15 J OS E F L ANG Religionsfreiheit – ein fremder Gast in unseren Tälern Im Juni 1870 schrieb der Bundesrat in seiner Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung: «Der Gedanke der religiösen Freiheit entstand in dem freien Land jenseits des Oceans; er kam als ein fremder, mit vielem Misstrauen angesehener Gast nach dem alten Europa zurück und auch da nicht zum ersten in unsere Täler.» Die Schweiz sei zwar «das Land der politischen Freiheit», aber die «religiöse Freiheit» sei «von jeher durch Gesetz und Sitte sehr beschränkt» geblieben. Bereits die Bundesverfassung von 1848 hat die politische Freiheit über die Religionsfreiheit gestellt. Immerhin hat sie die Gleichstellung der christlichen Konfessionen und Staatsbürger festgeschrieben. Das bedeutete, dass Katholikinnen und Katholiken auch in protestantischen und Protestantinnen und Protestanten in katholischen Kantonen die Niederlassungs- und Glaubensfreiheit sowie die politischen Rechte bekamen. Was für ein Riesenschritt das war, zeigt die massive Gegenkampagne im Sommer 1848. In Uri warnte ein ehemaliger Landammann davor, dass «künftig die Protestanten auf den Strassen Altdorfs predigen dürfen». An der Nidwaldner Landsgemeinde wurde behauptet, «die Katholiken kämen unter die Herrschaft der Protestanten». In Zug prophezeiten Geistliche, «die Katholiken müssten ihren Glauben abschwören und Protestanten werden». Die konfessionalistische Abwehr gegen Andersgläubige, die es auch in protestantischen Gebieten gab, war ein wichtiger Grund dafür, dass den zahlreichen Neuzuzügerinnern und Neuzuzügern die politische Partizipation in den Gemeinden erschwert wurde. Die Ersetzung oder Ergänzung der Bürgergemeinden durch Einwohnergemeinden, die nach der ersten Totalrevision der Bundesverfassung erfolgte, stärkte die jeweiligen konfessionellen Minderheiten.

16 T17 Ein grosses Problem blieb insbesondere in konservativen Gegenden die kirchliche Prägung der Primarschulen. Deshalb förderte der neue Schulartikel in der Bundesverfassung von 1874 auch die religiöse Freiheit und Toleranz. Er verpflichtete die Kantone, einen Unterricht anzubieten, der von allen «ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit» besucht werden kann. Andere Fortschritte wurden bereits früher durch Bundesgesetze erreicht. So hob die Bundesversammlung 1851 kantonale Regelungen auf, welche die Eheschliessung zwischen Brautleuten unterschiedlicher Konfession erschwerten. Die Bundesverfassung von 1874 setzte dann die Zivilehe und das Scheidungsrecht durch. Der Ausschluss der schweizerischen Jüdinnen und Juden von all den erwähnten Rechten war eine der grössten Schwächen der Bundesverfassung von 1848. Im Aargau, in dem ein gutes Drittel der damals 4216 Jüdinnen und Juden lebte, wurde deren Gleichberechtigung 1862 wuchtig verworfen. Der Hauptsprecher des antisemitischen «Mannlisturms» war gleichzeitig Kopf des auf den Papst getauften Piusvereins. Die programmatischen Grundsätze des Kampfes gegen die jüdische Emanzipation lauteten: «Die Juden passen nicht zu uns als Mitbürger und Miteidgenossen. Die Schweiz ist geschichtlich ein Vaterland der Christen.» Nachdem der Bund 1863 die politische Gleichberechtigung der Aargauer Juden verfügt hatte, war er gefordert, diese auch selbst zu verwirklichen. Im Januar 1866 gab es eine Abstimmung über die erste Teilrevision der Bundesverfassung. Während die Niederlassungsfreiheit und die Rechtsgleichheit der Juden eine Mehrheit fanden, wurde deren Glaubens- und Kultusfreiheit knapp abgelehnt. In der Zentralschweiz sagten um die 80 Prozent der Stimmbevölkerung Nein. Damit wurde die jüdische Religionsfreiheit zu einem Schlüsselthema in der folgenden Debatte um die Totalrevision. Ein Urner Ständerat bekämpfte sie mit einer höchst modernen Formulierung: «Soll die Schweiz ein christlicher oder aber ein kosmopolitischer Staat sein?» Am 19. April 1874 sprachen sich zwei Drittel des Männervolks bei einer Stimmbeteiligung von 82 Prozent für einen säkularen Bundesstaat aus. V Die zwei wichtigsten Streitpunkte im Ringen um den Bundesstaat waren die Klöster und der Jesuitenorden. Aus liberaler Sicht verschärften sie die konfessionelle Spaltung des Landes. Die von einem liberalen Katholiken gezeichnete Karikatur führt einen Jesuiten vor, der den Gläubigen einheizt. Martin Disteli, Zelotenpredigt, Entwurf zu einem Taschentuch, Solothurn, um 1834, Federzeichnung aquarelliert | © Musée d’art et d’histoire, Ville de Genève, photographe: André Longchamp

18 T19 Im Rahmen des Kulturkampfes um eine Entkoppelung von religiöser und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit wurde das bereits 1848 beschlossene Verbot des Jesuitenordens verschärft. Auch den einzelnen Mitgliedern wurde die Tätigkeit untersagt. Weiter wurde die Gründung neuer Klöster verboten und Geistlichen die Wählbarkeit in den National- und Bundesrat verweigert; die Errichtung von Bistümern musste vom Bund bewilligt werden. Diese Ausnahmeartikel widersprachen einer liberalen Vorstellung von Religionsfreiheit, V Knapp 20 Jahre nach der Anerkennung der jüdischen Religionsfreiheit im Rahmen der neuen Bundesverfassung 1874 wurde sie durch die Annahme der allerersten Volksinitiative 1893 wieder eingeschränkt. Die Karikatur zeigt, dass im antisemitisch geprägten Abstimmungskampf auch die Ritualmordlegende abgerufen wurde. Karikatur für das Schächtverbot, Nebelspalter, Bd. 19, Heft 33, Zürich, 19. 8. 1893 | Nebelspalter, Zürich V Der katholische Freisinnige Augustin Keller war zwischen 1835 und 1875 eine Schlüsselfigur im Kampf für einen säkularen Bundesstaat. Er schlug 1841 die Aufhebung der Aargauer Klöster und 1844 die Aufhebung des Jesuitenordens vor. In den 1860er Jahren machte er sich für die Gleichberechtigung der Juden stark, weshalb die 1907 in Zürich gegründete jüdische Loge seinen Namen trägt. Porträt von Augustin Keller, Kunstanstalt C. Knüsli, Zürich, Chromolithografie auf Papier | Schweizerisches Nationalmuseum

BV 1999, Art. 29, Abs. 1 auf gleiche und gerechte Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch Behandlung

38 T39 NUMA GR A A Entwicklung der Verfahrensgarantien im eidgenössischen Verfassungsrecht Das heutige Grundgesetz der Schweiz enthält nebst den Grundrechten des Einzelnen zahlreiche Verfahrensgarantien, namentlich bei gerichtlichen Verfahren (Artikel 29 bis 32). Die meisten dieser Rechte waren vor 1999 nicht ausdrücklich in der Schweizer Verfassung verankert. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie von den Gerichten zuvor nicht bereits einbezogen worden wären. Die Bundesverfassung von 1848 erwähnte kaum Verfahrensgarantien und Grundrechte. So war beispielsweise vorgesehen, dass gewisse Strafsachen – zu denen insbesondere die politischen Vergehen gehörten – vom Bundesgericht mit Geschworenen zu beurteilen waren. Die inzwischen abgeschafften Geschworenengerichte wurden damals als Garantie einer guten Rechtspflege angesehen, da sie letztlich von den Bürgern kontrolliert wurden, wie dies seit Langem in England und seit der Revolution in Frankreich der Fall war. Die Verfassung garantierte auch allen den Zugang zu den Gerichten ihres Wohnorts (Artikel 53). Es ging vor allem darum, ausserordentliche Gerichte zu verbieten. Solche wurden nach den politischen Unruhen der 1840er Jahre in gewissen Kantonen wie zum Beispiel imWallis 1844 eingesetzt. Nach der Niederlage der liberalen «Jungen Schweiz» in der Schlacht am Trient schufen die siegreichen Konservativen ein Sondergericht – das Zentralgericht. Dieses urteilte über politische Vergehen und unterdrückte dabei die Opposition. Aritkel 4 der Bundesverfassung spielte in der Folge eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung der Verfahrensgarantien. Ursprünglich sollte dieser vor allem die politische Gleichstellung garantieren, indem er die Einhaltung der Bürgerrechte sicherstellte, die grundsätzlich allen männlichen Bürgern zustanden.

Die Bundesverfassung von 1874 erweiterte die Liste der Verfahrensrechte kaum. Sie machte jedoch das Bundesgericht zu einer ständigen Einrichtung, das die Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger beurteilt, was bis anhin dem Bundesrat und der Bundesversammlung vorbehalten war. Ab 1877 anerkannte das Bundesgericht beispielsweise die Möglichkeit, Recht einzuklagen, als ein Grundrecht. Es verkündete, dass die Weigerung von Behörden, Bürgern Recht zu verschaffen, gegen das Gleichbehandlungsgebot verstosse. In den darauffolgenden Jahren leitete es aus Artikel 4 auch das Verbot willkürlicher Gerichtsurteile ab. Dementsprechend sollten Entscheide, die einer Verweigerung

V Als sich im Wallis im Zuge der Freischarenzüge die Liberalen bewaffnet gegen die katholischkonservative Regierung erheben, kommt es am 25. Mai 1844 beim Trienbach zum Massaker. Überlebenden wird vor einem Sondergericht der Prozess gemacht. Solche von Behörden durchgeführten Gerichtsverfahren verbietet die Verfassung von 1848. Martin Disteli (zugeschrieben), Gefecht am Trient, 1844, Lithografie | Schweizerisches Nationalmuseum der Gesetzesanwendung gleichkommen, als Verstoss gegen das Verfassungsrecht aufgefasst werden. Etwas später leitete das Bundesgericht vom Gleichbehandlungsgebot sogar ab, dass eine mittellose Partei Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat. Es dürfe ihr nicht der Zugang zu einem Gericht oder die Erhebung bestimmter Beweise verweigert werden, weil diese die Kosten nicht selbst tragen kann. Nach und nach gestand das Bundesgericht den Parteien – namentlich in einem Zivil- oder Strafverfahren – das Recht zu, vor einem sie betreffenden Entscheid angehört zu werden. Anspruch auf rechtliches Gehör setze voraus, dass Beschuldigte die Verfahrensunter-

42 T43 V Das Bundesgericht berichtigt teilweise Mängel in den Urteilen der Kantonsgerichte. Es führt so eine gewisse Einheitlichkeit in den Flickenteppich der schweizerischen Rechtsprechung ein. Bis ins 21. Jahrhundert gibt es in der Schweiz keine einheitliche Art, wie Prozesse geführt werden. Bundesgerichtshaus, Fotoalbum von Peter und Ruth Herzog, Lausanne, August 1912 | Schweizerisches Nationalmuseum V Der deutsche Liberale Ludwig Snell kommt als politischer Flüchtling in die Schweiz. Er bringt damals den Grundsatz auf, dass eine angeklagte Person als unschuldig gilt, bis sie verurteilt ist. In der Bundesverfassung von 1848 fehlt die Unschuldsvermutung. Carl Friedrich Irminger, Porträt von Ludwig Snell, Zürich | Schweizerisches Nationalmuseum lagen einsehen können, insbesondere diejenigen, aus denen die Identität der befragten Zeugen hervorgeht. Das oberste Gericht wies auch darauf hin, dass ein Beschuldigter nicht verurteilt werden kann, wenn eine beschuldigte Person nicht rechtsgültig zur Hauptverhandlung eingeladen wurde, um sich verteidigen zu können. Von Entscheid zu Entscheid gestaltete das Bundesgericht so den Anspruch auf rechtliches Gehör aus, wie er nun in der Bundesverfassung von 1999 für jedes Gerichts- oder Verwaltungsverfahren vorgesehen ist (Artikel 29). Dieses Recht ermöglicht es heute allen an einem Gerichtsverfahren Beteiligten, sich vor einem Urteil zu äussern, Einsicht in die Akten zu nehmen, relevante Beweise vorzulegen oder eine Begründung für das Urteil zu erhalten.

der Bürgerrechte durch Abstammung, Heirat und Adoption BV 1999, Art. 38, Abs. 1 Der Bund regelt Erwerb und Verlust

68 T69 R EGU L A ARGAST Gegen willkürliche Einbürgerungsentscheide: D I E BUNDE SVERFAS SUNG AL S KORREK T I V Das Schweizer Bürgerrecht besteht aus dem Bundes-, Kantons- und Gemeindebürgerrecht, wobei den Gemeinden bei der ordentlichen Einbürgerung eine Schlüsselrolle zukommt. Damit verbunden ist die Gefahr willkürlicher oder diskriminierender Einbürgerungsentscheide. Die in der Bundesverfassung verbrieften Grundrechte stellen dazu ein wichtiges Korrektiv dar. An einem kalten Wintermorgen 1963 tritt die 20-jährige Einbürgerungskandidatin Vittoria Zanetti (Name geändert) vor die Bürgerkommission des Basler Bürgerrats. Vittoria ist in Basel geboren und aufgewachsen. Ihr Vater stammt aus Italien, ihre Mutter aus Basel. Die Bürgerrechtskandidatin, wie ihr Vater italienische Staatsbürgerin, hat nach den Basler Schulen eine Lehre zur Dentalassistentin absolviert. Die Einbürgerungsbewilligung des Bundes liegt vor. Zwei erste Befragungen durch das Bürgerrechtsbüro, Arbeitszeugnisse und Informationen aus dem Bekanntenkreis haben nichts Nachteiliges ergeben. Im altehrwürdigen Basler Stadthaus muss Vittoria Zanetti den elf Damen und Herren der Bürgerkommission Rede und Antwort stehen. Die Kommissionsmitglieder sitzen an einem Tisch, einzelne noch ins Gespräch vertieft. Während «eine[r] geraume[n] Zeit», so wird man später aus den Rekursschriften von Zanettis Anwalt an den Basler Regierungsrat und das Bundesgericht vom April und Oktober 1964 gegen das abgelehnte Gesuch erfahren, ist die Kandidatin «unsicher», «ob die ‹offizielle› Befragung überhaupt schon begonnen» hat. Unvermittelt stellt eine Bürgerrätin die erste Frage: Ob Vittoria Zanetti «wisse, weshalb Damen in diesem Saal sässen». Das hat «wohl etwas mit dem Frauenstimmrecht zu tun», antwortet die Gefragte etwas vage. Tatsächlich hatten die Basler Bürgerinnen am 7. Dezember 1958 das Stimm- und Wahlrecht der Bürgergemeinde erhalten.

70 T71 Auf Vittorias Antwort, so ist den Akten weiter zu entnehmen, reagiert die «fragende Dame [...] sauer». Auch scheint die «betreffende Frau Bürgerrätin das Bedürfnis [zu empfinden], Pralinés aus einer offenen vor ihr stehenden Tüte zu essen». Ein Bürgerrat will wissen, wie man «nach Olten oder Luzern» kommt. Vittoria antwortet spontan: «Den Wegweisern nach.» Und nun gibt ein Wort das andere. Der Bürgerrat: «Gehen Sie zu Pferd?» Zanetti: «Nein, mit dem Wagen.» Und wieder der Bürgerrat: «[W]as, e Wage hän Si au?». Das Gesuch wird abgelehnt. Die offizielle Begründung gemäss Paragraf 2d des damals geltenden Basler Bürgerrechtsgesetzes lautet: «notorisch anstössiger Lebenswandel». Vittoria Zanettis Fall war einer von rund 20 Fällen zwischen 1950 und 1969, in denen ausländische Bürgerrechtsbewerbende gegen die Abweisung ihres Gesuchs im Kanton Basel-Stadt Rekurs einlegten. Dabei handelte es sich um Zugewanderte der ersten und zweiten Generation, hauptsächlich um Deutsche und Italienerinnen und Italiener. Nach 15-jährigem Wohnsitz im Kanton bestand für unter 45-Jährige ein Recht auf unentgeltliche Einbürgerung. Paragraf 2d war ein Relikt aus dem Jahr 1902. Damals wollten der Bund und Kantone wie Basel, Zürich und Genf die Einbürgerung erleichtern. Angesichts der steigenden Zahlen der ausländischen Wohnbevölkerung sollte deren staatsbürgerliche Integration gefördert werden. Zwar scheiterte der Versuch um 1900, ein bundesweites ius soli einzuführen. Der Kanton Basel-Stadt weitete aber mit dem Gesetz vom 19. Juni 1902 das bestehende Recht auf unentgeltliche Einbürgerung aus und führte ein Rekursrecht ein. Zu den Ausschlusskriterien gehörte, wie bereits im Gesetz von 1879, unter anderem das Kriterium des «notorisch anstössigen Lebenswandels». Galt der Lebenswandel einer Person als offensichtlich «anstössig», verhinderte das die Einbürgerung. Die Auslegung des Paragrafen wurde immer weiter, seit sich nach dem Ersten Weltkrieg das Schlagwort der «Überfremdung» auch in der Einbürgerungspolitik des Kantons Basel-Stadt durchgesetzt hatte. So wies der Regierungsrat in seiner Stellungnahme an das Bundesgericht vom 24. November 1964 im Fall Zanetti darauf hin, dass das Einbürgerungshindernis des «notorisch anstössigen V Der Kanton Basel-Stadt lehnt das Gesuch einer jungen Italienerin ab, die sich in den 1960er Jahren einbürgern lassen will. Die Kandidatin sei zwar «in Basel geboren, aufgewachsen, habe hier die Schulen besucht und ihre Arbeitsstellen gefunden» und sie habe «in Basel Verwandte, Freunde und Bekannte». All das reicht dem Basler Regierungsrat aber nicht als «strikte[r] Nachweis» ihrer «Assimilation». Gemeinde-Archive, Bürgergemeinde Basel C 1,6 Bürgerrecht, Allg. und Einzelnes, Rekurse | Staatsarchiv Basel-Stadt

72 T73 Lebenswandels» in Basel traditionellerweise als eine «Generalklausel» gelte. Entsprechend argumentierte die Bürgergemeinde in ihrem Schreiben an das Bundesgericht vom 16. November 1964: Der «Abweisungsgrund des ‹notorisch anstössigen Lebenswandels›» werde «gemäss jahrzehntelanger Praxis sehr extensiv interpretiert». Darunter würden alle Bewerber fallen, «die wegen ihrer politischen Einstellung, wegen unerfreulicher Charaktereigenschaften oder mangelnder Assimilation abgewiesen werden». So habe die Prüfung des Gesuchs von Vittoria Zanetti ergeben, dass sie «unreif, mit verschiedenen charakterlichen Mängeln behaftet und vor allem mit ihrer Wahlheimat ungenügend verbunden sei».

V Elisabeth Vischer-Alioth hält am 5. Dezember 1961 als Alterspräsidentin des weiteren Bürgerrats (heute Bürgergemeinderat) im Sitzungszimmer des Gemeindeparlaments eine Rede. Drei Jahre zuvor erhalten die Basler Bürgerinnen das Stimm- und Wahlrecht in der Bürgergemeinde. Hans Bertolf, Erstmals Frauen im Bürgerrat, National-Zeitung, Basel, 6. 12. 1966 | BSL 1013 1-1746 5 | Staatsarchiv Basel-Stadt V In diesem altehrwürdigen Saal muss sich die Seconda 1963 den Fragen der Bürgerkommission stellen. Ihr Einbürgerungsgesuch wird abgelehnt. Später begründet die Bürgergemeinde der Stadt Basel die Ablehnung damit, dass die Einbürgerungskandidatin «vor allem mit ihrer Wahlheimat ungenügend verbunden sei». Bürgerratssaal im Stadthaus Basel | AL 45, 4-33-5 | Staatsarchiv Basel-Stadt

Die Schweizer Bundesverfassung wird 175 Jahre alt. Zu ihrem Geburtstag präsentiert das Schweizerische Nationalmuseum eine Ausstellung über den Wert von Grundrechten. Begleitend dazu reflektieren neun Beiträge in diesem Buch, wann, wie und warum sich ausgewählte Grundrechte durchsetzen konnten.

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